Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: family lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Frage

Ich bin Mutter eines bald 14-jährigen Jungen. Er schenkt uns viel Freude – und natürlich erleben wir auch viele Herausforderungen mit ihm. Als er acht Jahre alt war, wurde bei ihm Typ-1-Diabetes diagnostiziert. Es hat sich seit damals einigermaßen gut eingespielt, sowohl der Umgang mit der Diagnose als auch mit der richtigen Dosis an Insulin. Er hat ziemlich gute Langzeitmessungen, er kennt seinen Körper und auch seine Gefühle. Er weiß auch genau, welche Diät er halten muss und wie viel Insulin er braucht.

Dennoch ergreift er selbst nie die Initiative. Wir müssen ihn erinnern und stets fragen. Das ist immer wieder frustrierend – und auch mit den Gedanken daran verbunden, wie es in Zukunft weitergehen soll. Wann ist der richtige Zeitpunkt, um ihm die Verantwortung für seinen Körper und seine Gesundheit zu übergeben – und vor allem wie?

Antwort

Seit ich vor vielen Jahren das Buch "Familien mit chronisch kranken Kindern" geschrieben habe, wurde ich zu verschiedenen Fachkongressen über Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes eingeladen. Ich habe dabei das Gleiche gelernt wie Sie. Nämlich dass Ärzte und Krankenschwestern denken, dass Jugendliche schwer zu "motivieren" sind, Verantwortung für ihr Insulin zu übernehmen. Ich habe auch noch etwas anderes gelernt, nämlich wie schwierig es ist, die Fachkräfte zu motivieren, die Verantwortung für Krankheit und Medikamente wieder den Jugendlichen zurückzugeben.

Das hat eine lange Tradition: Wenn die Kinder klein sind, wird den Eltern die Verantwortung übertragen. Diese nehmen sie aus guten Gründen sehr ernst. Die richtige Dosis an Insulin ist eine Frage von Leben und Tod und stellt sowohl die elterliche Verantwortung als auch jene der Kinder in den Vordergrund. Wo beginnt und wo endet die Verantwortung des Elternteils für die Gesundheit eines Kindes, und wann ist es an der Zeit, dass der Jugendliche die Verantwortung selbst übernimmt?

Destruktive Konflikte

Die Antwort lautet, allgemein gesprochen, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist, wenn es darum geht, zerstörerische Konflikte zwischen Eltern und Kindern zu vermeiden. Ein Konflikt ist dann destruktiv – für beide Parteien und für ihre Beziehung –, wenn er sich in kurzen Intervallen wiederholt und wenn der Ton negativ, aggressiv und frustriert wird. Dies ist vermutlich, was Sie gerade erleben, und Sie suchen daher nach einer weiteren Ressource oder gar einer Lösung.

Das ist, was ich Ihnen anbieten kann: Laden Sie Ihren Sohn auf eine seiner Lieblingsspeisen ein. Wenn er fragt, warum, sagen Sie ihm, dass es etwas gibt, das Sie gerne mit ihm feiern möchten.

Verantwortung übergeben

Schreiben Sie vor der Essenseinladung einen Brief mit folgendem Text und Ihren persönlichen Worten: "Lieber X. Dein Vater und ich haben seit deiner Diabetes-Diagnose die volle Verantwortung für Deine Insulindosis und -Messung übernommen. Jetzt ist die Zeit für Dich gekommen. Es sind Dein Körper, Deine Krankheit und Deine Medizin – und damit auch Deine Verantwortung, die wir Dir hiermit übergeben. Solltest Du unsere Hilfe brauchen, sag uns das einfach, wir helfen Dir gerne, aber wir übernehmen keine Verantwortung mehr. Du hast unser volles Vertrauen!"

Geben Sie ihm diesen Brief zur Vorspeise, und warten Sie seine Reaktion ab. Ich habe noch nie von einem jungen Mann oder einer jungen Frau gehört, der oder die protestiert hätte oder traurig geworden wäre. Manchmal kommt es vor, dass der Jugendliche an sich selbst zweifelt und wirklich möchte, dass die Eltern weiterhin aufpassen. Das ist auch in Ordnung so. Er hat jetzt die Verantwortung, muss sie aber nicht unbedingt allein ausüben.

Bereitschaft der Eltern

Es erzeugt jedoch eine völlig andere Stimmung in der Familie, wenn er die Verantwortung dafür übernimmt und dann die Eltern um Hilfe bittet, als wenn die Eltern ihn ermahnen müssen. Aber: Die Eltern müssen bereit sein, die Verantwortung zu übergeben. Tun sie das nicht, wird auch das Kind die Verantwortung nicht übernehmen.

Meine eigenen Erfahrungen stimmen mit jenen von Gesundheitsexperten überein, nämlich dass die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen selbst gerne Verantwortung übernimmt und sich auch um ihre Krankheit kümmert. Sollte dies nicht zutreffen, gibt es zwei Möglichkeiten. Eine besteht darin, dass Sie Ihr eigenes Verhalten sorgfältig untersuchen, sodass Sie absolut sicher sind, dass Sie tatsächlich Verantwortung freigegeben haben. Die andere ist, mit ihm zu reden und die Verantwortung wieder zurückzubekommen.

Einige Kinder und Jugendliche mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung sind so damit vertraut, dass Fachleute und Eltern ihnen die gesamte Verantwortung abnehmen, dass ihnen einfach die Erfahrung fehlt, um ihre persönliche Verantwortung wahrzunehmen – und sie sich vielleicht nicht einmal vorstellen können, was das bedeutet. Sie haben nur gelernt, entweder kooperativ oder untreu zu sein.

Vertrauen und Zutrauen

Eine der wichtigsten Fragen, die Sie und Ihr Ehemann sich stellen müssen, ist, ob Sie Ihrem Sohn und seiner Fähigkeit und Bereitschaft, auf sich selbst zu achten, vertrauen. Wenn Sie dies nicht tun, ist dies ein ernstes Hindernis für eine positive Entwicklung.

Diese Frage gilt für alle Eltern mit Kindern in diesem Alter. Sie wollen, dass ihre Kinder unabhängig und verantwortungsbewusst werden, aber sie vertrauen ihnen nicht wirklich. Die Eltern entscheiden sich oft für die "billige" Lösung, bei der der junge Mensch zuerst beweisen muss, dass er das Vertrauen der Eltern verdient. Dies führt fast immer zu einem Teufelskreis, denn die Eltern übernehmen damit keine Verantwortung für ihr eigenes Misstrauen oder mangelndes Vertrauen, das sie selbst fühlen. Wenn das passiert, dann handelt es sich tatsächlich um Eltern, die zwar persönliche Verantwortung für ihre Kinder übernehmen, aber keine Verantwortung für ihre eigenen Gefühle und Einstellungen. Das Ergebnis ist dann eine unendliche Anzahl bedeutungsloser Konflikte. (Jesper Juul, 13.5.2018)