Michael Köhlmeier bei der Gedenkveranstaltung im Parlament. Seine Rede in der ORF-TVthek.

foto: apa/pfarrhofer

Der Autor in der "ZiB 2" zu den Vorwürfen der ÖVP, er habe die Schließung der Westbalkanroute mit den Verbrechen der NS-Zeit verglichen.

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1938: "Es hat auch damals schon Menschen gegeben, die sich damit brüsteten, Fluchtrouten geschlossen zu haben." Diese Aussage von Michael Köhlmeier beim Gedenkakt des Parlaments ist nichts anderes als die nackte Wahrheit. Bundeskanzler Sebastian Kurz, der landauf landab damit prahlt, die Balkanroute geschlossen zu haben, ja seinen Wahlkampf damit bestritten hat, mit dieser historischen Wahrheit zu konfrontieren, ist angemessen. Ihre brennende Aktualität ist unbestreitbar.

Mit dieser Aussage zieht Köhlmeier mitnichten einen Vergleich zwischen der heutigen Asylpolitik und den Verbrechen der Nationalsozialisten, wie uns Kurz in kalter Dreistigkeit weismachen will. Der Schriftsteller erinnert dabei im Gegenteil an die Inhumanität und das Versagen der Europäischen Staaten und der USA angesichts der anschwellenden Flüchtlingsströme nach dem Anschluss Österreichs und der Konferenz von München – Jahre vor der Shoah.

Evian 1938

Die europäischen Staaten hatten seit Machtergreifung der Nazis ihre Asyl-und Einwanderungspolitik stetig verschärft und ihre Grenzen weitgehend geschlossen. Nach jahrelangen fruchtlosen Verhandlungen wurde schließlich 1938 die Konferenz von Evian einberufen. Sie sollte zwischen 32 Staaten eine Einigung erreichen über Aufnahmequoten für Flüchtlinge aus "dem Dritten Reich", darunter auch Zehntausende aus dem gerade annektierten Österreich. Am Ende der Konferenz hatte sich nicht ein einziges Land bereit erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen.

Golda Meir, Teilnehmerin dieser Konferenz und spätere israelische Ministerpräsidentin erinnert sich in ihrem Tagebuch:

"Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. [...] Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wißt Ihr denn nicht, dass diese verdammten 'Zahlen' menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn Ihr sie nicht aufnehmt? Damals konnte ich natürlich noch gar nicht wissen, dass den Flüchtlingen, die niemand wollte, nicht nur Konzentrationslager, sondern der Tod in Vernichtungslagern drohte."

Evian 2005

Genau 67 Jahre später, im Jahre 2005 fand ausgerechnet in eben dem selben französischen Städtchen Evian wiederum eine Flüchtlingskonferenz zwischen den großen EU-Staaten Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien statt. Ob sich die Teilnehmer ihrer historischen Schande an diesem Verhandlungsort bewusst waren, muss wohl bezweifelt werden. Und auch diese Konferenz endete mit der ausnahmslosen Verweigerung dieser Staaten. Man einigte sich auf einen einzigen Punkt: die Abschiebung von Flüchtlingen per Charterflugzeugen.

Im folgenden Jahrzehnt fielen die Ausgaben auch Österreichs für die Uno-Ernährungsprogramme, für die Entwicklungshilfe und damit für die Bekämpfung der Fluchtursachen von Jahr zu Jahr. Die Asylgesetze wurden in immer kürzeren Abständen verschärft. Als angesichts von Verfolgung, Tyrannei, Folter, und Krieg in Afghanistan, Irak und Syrien vom Rat der Europäischen Union endlich doch Aufnahmequoten für Flüchtlinge beschlossen wurden, weigerten sich zahlreiche Mitgliedstaaten rechtswidrig diesen Beschluss umzusetzen. Anstatt sich als junger österreichischer Außenminister für die gemeinsame Anerkennung der Flüchtlingsquoten einzusetzen, schlug sich Kurz offen auf die Seite der Verweigerer und betrieb hinter dem Rücken der EU die "Schließung der Balkanroute", mit der er sich heute brüstet. Für die versprochene Schaffung legaler Fluchtwege, für Resettlementprogramme, die drastische Aufwertung der Entwicklungshilfe zur Bekämpfung der Fluchtursachen, für eine gemeinsame europäische Asylpolitik rührte er dagegen keinen Finger.

Herr Bundeskanzler Kurz, Herr Vizekanzler Strache, haben Sie jetzt verstanden? (Johannes Voggenhuber, 10.5.2018)