Dean Vuletic hat das Nachkriegseuropa durch die Linse des Song Contest betrachtet.

Foto: Marco Schreuder

"Postwar Europe and the Eurovision Song Contest" ist als Buch und eBook bei Bloomsbury erschienen und kann hier bestellt werden: bloomsbury.com

Cover: Bloomsbury

Der kroatisch-australische Historiker Dean Vuletic, der am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien arbeitet und forscht, hat sich in den letzten Jahren durch 62 Song Contests, 1.480 Lieder, zahllose Akten, Papiere und Anekdoten gewühlt, um herauszufinden, wie wichtig der Eurovision Song Contest für die Nachkriegsgeschichte Europas war und ist. Heraus kam das Buch "Postwar Europe and the Eurovision Song Contest". Dabei entdeckte er, dass viele Erzählungen Mythen sind. Ein Gespräch mit dem Historiker.

Schreuder: Beim Eurovision Song Contest treten Länder gegeneinander an. Würde man die Herkunftsländer verschweigen und nur Künstler gegeneinander antreten lassen – wäre der Song Contest genauso populär?

Vuletic: Interessant ist ja, dass man auf den Scoreboards in den ganz frühen Jahren des Eurovision Song Contest nur die Interpreten und die Songs anzeigte. Das änderte man aber schnell und schrieb dann nur noch die Länder hin. Die haben schnell verstanden, dass es weniger um Künstler geht als um Künstler, die ein Land repräsentieren, und das mehr Erfolg versprach. Ich habe mir genau angeschaut, wie sehr etwa Komponisten oder Liedtexte mit dem Land verbunden sind, wenn es um die Repräsentation eines Landes geht. Es war ja sehr auffällig, dass in den letzten Jahren sehr viele Songs aus der Feder von Schweden stammten. Auch dieses Jahr sind die Vertreter vieler Länder eigentlich schwedisch. Dahinter steht aber auch ein politisches Konzept der schwedischen Politik, die massiv moderne Populärkultur fördert.

Schreuder: Wie wichtig war Eurovision für das Nachkriegseuropa?

Vuletic: Der Song Contest wurde immer mit der Nachkriegszeit verknüpft. Die Eurovision ist ein Resultat der internationalen Beziehungen im Nachkriegseuropa, ein Produkt des Kalten Krieges. Am ersten Song Contest nahmen nur westeuropäische Staaten und der Mittelmeerraum teil. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges expandiert der Song Contest Richtung Osten. In meinem Buch stelle ich die zentrale Frage, ob der Song Contest Veränderungen bewirkt oder reflektiert hat. Als Conclusio kann ich sagen, der Bewerb ist eine gute Linse, um Veränderungen zu beobachten, aber der Song Contest hatte kaum politische Auswirkungen. Aber immerhin wurde er eine der am längsten laufenden TV-Shows der Welt und eine der erfolgreichsten Musikshows der Welt.

Schreuder: Also ein Spiegel der Geschichte, ohne selbst Geschichte gemacht zu haben?

Vuletic: Ja, so kann man das sagen. Um zwei Beispiele zu nennen: der Eurovision Song Contest 2012 in Aserbaidschan. Der Bewerb lenkte sehr viel Aufmerksamkeit auf das Land, seine autoritäre Regierung und seine Unterdrückung der Pressefreiheit. Alle berichteten dann darüber, die Medien, der Europarat, die Europäische Union und auch die European Broadcasting Union (EBU). Noch nie wurde der Eurovision Song Contest so intensiv im Europäischen Parlament diskutiert. Wenn man sich die Berichte heute anschaut, muss man jedoch feststellen, dass die Pressefreiheit in Aserbaidschan sogar restriktiver geworden ist. Das zweite Beispiel ist Conchita Wurst 2014. Sie hat sich nach dem Sieg oft für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare eingesetzt. Politiker Österreichs haben dann sogar gesagt, dass sie diesen Schritt erwägen. Umgesetzt haben sie die Eheöffnung aber nie, das tat erst der Verfassungsgerichtshof.

Schreuder: Aber der Song Contest war doch auch ein politisches Produkt. Nur elf Jahre vor dem ersten Song Contest brachten sich die Europäer im Zweiten Weltkrieg noch gegenseitig um. Der Song Contest vereinigte Europa kulturell doch auch ein Stück weit ...

Vuletic: Es ist ein Mythos, die Song-Contest-Geschichte mit der europäischen Integration zu verbinden. Es ist vielleicht ein Teil der Geschichte, aber nicht das Gesamtbild. Die EBU wurde, gleich nach dem Europarat 1949, als zweite westeuropäische Organisation 1950 gegründet. Es war übrigens das Eurovision-Netzwerk, das erstmals das Symbol mit den zwölf Sternen etablierte. Die EBU war aber sehr darauf bedacht, nicht zu sehr mit anderen europäischen Organisationen verknüpft zu werden. Es ging ums Fernsehen.

Schreuder: Die EBU und der Eurovision Song Contest waren also ein technisches und kein politisches Produkt?

Vuletic: Absolut, ganz genau! Das waren Fernsehmacher. Was sie wollten, war, das Fernsehen weiterzuentwickeln. Marcel Bezençon (langjähriger EBU-Direktor und einer der Erfinder des Eurovision Song Contest, Anm.) war ein Schweizer. Die Schweiz hat nie an der EU teilgenommen und war damals auch lange noch kein Mitglied der Uno. Das interessierte ihn nicht. Ich habe all seine Publikationen und Texte für meine Arbeit gelesen. Er hat nicht viel über Europa geredet, er wollte, dass die TV-Anstalten mehr zusammenarbeiten, um Kosten zu sparen, um gemeinsam TV-Programme zu entwickeln.

Schreuder: Aber entwickelte der Song Contest danach nicht auch ein Eigenleben, und trug er nicht zur europäischen Integration bei?

Vuletic: Ich war selbst überrascht, wie selten dieser Punkt in den frühen Jahrzehnten des Song Contest Thema war. Das geschah später, aber weniger häufig, als man annehmen möchte. Es gab Songs, die Europa zum Thema machten, wie etwa der Siegersong von 1990, "Insieme 1992" von Toto Cutugno. Es war hin und wieder Thema, wenn Staaten Mitglied der EU werden wollten und die Bühne des Song Contest dafür nutzten. Aber natürlich wurde der ESC eines der ganz wenigen Ereignisse, die Europa gemeinsam zelebrierte, die man gemeinsam schaute und teilte.

Schreuder: Du hast anfangs erwähnt, der Song Contest war ein Produkt des Kalten Krieges und westeuropäisch orientiert ...

Vuletic: Eigentlich war die Eurovision sehr global ausgerichtet. Die Aufnahmen des ersten Song Contest wurden sogar nach Australien geschickt. Die waren damals bereits assoziiertes Mitglied der EBU. Ein Teilnehmer beim ersten Song Contest 1956, Freddy Quinn, war ein Österreicher, der Halbamerikaner war und für Deutschland antrat. Sein Song war sehr vom amerikanischen Rock 'n' Roll beeinflusst. 1959 brachte der österreichische Beitrag "Der k. u. k. Kalypso aus Wien" lateinamerikanische Rhythmen zum Song Contest. Es gab also immer schon eine globale Idee. 1958 wurde der italienische Beitrag "Volare" von Domenico Modugno ein Welthit, auch in den USA.

Schreuder: Er gewann aber nicht den Song Contest ...

Vuletic: Nein, aber dafür einen Grammy. In den späten Sechzigern wurde der ESC auch in Lateinamerika übertragen, in den Siebzigern in vielen asiatischen Ländern, in den Achtzigern in Korea und Australien ...

Schreuder: War der Song Contest also ein globaler und kommerzieller Wettbewerb?

Vuletic: Ja, das würde ich in all diesen Fällen unterstreichen.

Schreuder: Und was bedeutete das nun für Osteuropa?

Vuletic: In Osteuropa schaute man den Eurovision Song Contest seit 1965, und zwar seit es ein Austauschprogramm zwischen der westeuropäischen EBU und der osteuropäischen Äquivalenz, der Intervision, gab. Die Osteuropäer kannten den Contest also gut. Diese Geschichte, dass Osteuropäer heimlich und illegal den westlichen Song Contest schauten, ist ein Mythos, und es ist sehr bedauerlich, dass sogar aktuelle TV-Dokumentationen über den Contest diese Geschichte immer noch erzählen. Auch die osteuropäische Variante des Song Contest, der Intervision-Gesangswettbewerb, war für westeuropäische Staaten und Plattenfirmen in den Sechzigern und Siebzigern offen. Karel Gott ist ein gutes Beispiel. Er trat bei beiden Wettbewerben auf, 1968 – nicht zufällig im Jahr des Prager Frühlings – vertrat er Österreich bei der Eurovision mit einem Lied aus der Feder von Udo Jürgens. Der ORF spielte überhaupt in dieser Zeit eine sehr große Rolle, weil er enge Beziehungen zu beiden Seiten pflegte und den Prager Frühling intensiv coverte.

Schreuder: Und dann gibt es den Sonderfall Jugoslawien ...

Vuletic: Ja, weil Jugoslawien unter Präsident Tito zwar kommunistisch und mit einer Einheitspartei regiert wurde, aber blockfrei war und sich weigerte, dem Warschauer Pakt beizutreten. Es war Gründungsmitglied der EBU, daher nahm Jugoslawien dann ab 1961 am Eurovision Song Contest teil. Anfangs waren die Jugoslawen nicht sehr erfolgreich, und es gab Diskussionen, ob die schlechten Bewertungen der Jurys an der slawischen Sprache oder am Kommunismus liegen könnten. Als sie in den Achtzigern aber vermehrt auf Europop setzten, wurden sie erfolgreicher und konnten 1989 gewinnen, also kurz vor dem Ende des Kalten Krieges und auch dem Zerfall Jugoslawiens. Es nahmen auch andere Diktaturen teil, Portugal und Spanien in den frühen Jahren etwa.

Schreuder: Was passierte dann nach dem Fall des Eisernen Vorhangs?

Vuletic: Es gab vereinzelt Songs, die sich mit den politischen Entwicklungen auseinandersetzten, aber das war eine überschaubare Anzahl und auf die frühen Neunzigerjahre beschränkt. 1993 waren die mittel- und osteuropäischen TV-Sender bereits Mitglied der EBU. Die EBU vergrößerte sich also schnell, und somit auch die Anzahl der Teilnehmerländer. Die Europäische Union jedoch vergrößerte sich deutlich langsamer. Daher entwickelten sich diese zwei Organisationen sehr unterschiedlich weiter. Hier betonte die EBU auch immer deutlicher, dass der Song Contest unpolitisch ist, worüber wir aufgrund der häufigen politischen Implikationen natürlich lachen.

Schreuder: Es gab ja immer wieder politische Debatten, die beim Song Contest reflektiert wurden. 1961 war der Siegersong "Nous les amoureux" wohl der erste Song über die gleichgeschlechtliche Liebe, 1962 thematisierte Conny Froboess in "Zwei kleine Italiener" die Migrationsbewegungen, Katja Ebstein machte 1971 mit "Diese Welt" die Umwelt zum Thema, Dana International war 1998 die erste transsexuelle Künstlerin, und dieses Jahr thematisiert Israel die #MeToo-Bewegung. Wie wichtig ist das Verhandeln politischer Positionen beim Eurovision Song Contest?

Vuletic: Es ist enorm wichtig. Diese Themen binden große Zuschauergruppen. Es schauen mittlerweile 200 Millionen Menschen zu. Wenn man also ein gesellschaftspolitisches Statement durch einen Song abgibt, wird man gehört. Es gab Antikriegssongs, aber da gab es bereits eine Antikriegsbewegung, es gab Umweltsongs, aber da war Umweltschutz auch längst ein brennendes Thema in der Öffentlichkeit. Auch in all diesen Fällen reflektiert der Song Contest aktuelle Themen, ohne sie selbst aktiv zu verändern. Als Conchita gewann, war die lesbisch-schwule Emanzipation schon sehr weit fortgeschritten.

Schreuder: Trifft das auch auf die israelische Siegerin 1998, Dana International, zu? Sie hat ja in ihrem Land viel verändert.

Vuletic: Sie ist wohl eine der wenigen Ausnahme, die wirklich etwas verändert haben und geholfen haben, die Stellung der sexuellen Minderheiten in Israel nachhaltig zu ändern.

Schreuder: Aber Songs können doch auch zu mehr Bewusstsein führen, ohne etwas großartig zu ändern. Bevor Jamala 2016 gewann, kannten nur wenige das Schicksal der Krimtataren im vorigen Jahrhundert, danach waren es deutlich mehr.

Vuletic: Ja, das stimmt, allerdings ging der wahre Inhalt ihres Songs verloren, weil ihn nahezu alle in einen aktuellen Bezug setzten. Sie sahen darin eine aktuelle Reflexion des russsisch-ukrainischen Krieges, der Annexion der Krim sowie des russisch-westlichen Konflikts. Dabei geht es in dem Song um einer europäische muslimische Minderheit in den Vierzigern, diese Geschichte ging aber leider verloren. Man hätte so viel Wichtigeres in diesem Song finden können, man sah aber leider nur den aktuellen Konflikt.

Schreuder: Die Song Contests der letzten Jahre standen sehr im Schatten der politischen Diskussionen über Russland. 2014 diskutierte und kritisierte man die Gesetze gegen die sogenannte "Homo-Propaganda", 2015 kam Russland mit einem Friedenslied nach Wien, als der Krieg in der Ukraine stattfand, 2016 waren ausgerechnet Russland und die Ukraine die Favoriten auf den Sieg, und dann das Desaster um die Einreise der russischen Teilnehmerin in der Ukraine, die dann nicht teilnehmen durfte. Das Publikum reagierte oftmals mit Buhrufen. Werden wir das dieses Jahr wieder erleben?

Vuletic: Es mag sich in der Zukunft ändern, aber das kann man natürlich nicht vorhersagen. Der Konflikt könnte sich aber auch innerhalb der Eurovision noch länger fortsetzen. Dieses Jahr ist es aber eher ruhiger, es wird vermutlich keine politischen Skandale geben. Wir haben wieder den Rekord von 43 Teilnehmern eingestellt, es hat keiner seine Teilnehme zurückgezogen, außer manchen Sendern, die sich aus finanziellen Gründen eine Teilnahme nicht leisten können oder wollen, etwa aus Bosnien und Herzegowina und der Slowakei. Nur die Türkei kommt schon lange nicht mehr, aus politischen Gründen, aber das kennen wir ja schon seit 2013.

Schreuder: Aber wollen die Fans nicht vor allem eine Party ohne große Aufreger? Und ist es nicht vielleicht auch ein politisches Statement, von all dem Wahnsinn einmal eine kurze Pause zu haben?

Vuletic: Na ja, es gibt genug Songs dieses Jahr, die aktuelle politische Bezüge zum Inhalt haben. Im französischen Beitrag geht es um die aktuellen Flüchtlingsbewegungen, im italienischen Beitrag geht es um Krieg und Terror ...

Schreuder: Stimmt natürlich, wir haben auch die #MeToo-Bewegung im israelischen Beitrag oder Empowerment im finnischen Beitrag, allerdings sehr tanzbar.

Vuletic: Und natürlich die Themen Frieden und Zusammenhalt in der Welt aus der Schweiz, Dänemark und Island. Im deutschen und portugiesischen Beitrag geht es um Tod und Verlust von Menschen, die man liebt. Ob das der Soundtrack für eine Party ist? Dieses Jahr haben wir sogar Metal.

Schreuder: Wer gewinnt dieses Jahr?

Vuletic: Ich bin Historiker, kein Prophet.

Schreuder: Dein Lieblingsbeitrag aller Zeiten?

Vuletic: Italien 1987, "Gente di mare" von Umberto Tozzi & Raf. Ich liebe überhaupt die italienischen Beiträge sehr. (Marco Schreuder, 11.5.2018)