Paul Theroux, "Mutterland". Übersetzt von Theda Krohm-Linke. € 28,80 / 656 Seiten. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2018.

"Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich", schrieb Leo Tolstoi in Anna Karenina. Wohl deshalb beschäftigen tragische Lebensgemeinschaften die Kunst stärker als zufriedene. Neid um Geld und Aufmerksamkeit, Entfremdung und Konkurrenz sind Konstanten in Familienromanen. Sie sind als Quellen von Kummer und Streit freigiebig.

Im vorliegenden Fall 650 Seiten lang. Schauplatz ist ein Fleckchen auf der Halbinsel Cape Cod in Massachusetts. Dort leben sieben selbst schon fast pensionsreife Kinder quasi in Rufweite ihrer greisen Lebensspenderin. Es könnte zwischen Fischrestaurants und Strand sehr schön sein. Ist es aber nicht. Nach außen hin für glücklich gehalten, strotzt es im Familiengefüge vor Tücken.

"Eine Familie ist wie ein fernes Land, aus dem jemand kommt. Unseres war völlig abgelegen und hatte seine eigenen Sitten und Grausamkeiten", erklärt Jay, eines der Geschwister und zugleich Erzähler des Buches mit dem Titel Mutterland. Das bezeichnet üblicherweise einen geografischen Raum, dem etwas entstammt. Hier ist es mehr ein ideeller Ort.

Mit Ländern kennt Paul Theroux sich aus. Mehr als 30 Bücher hat er geschrieben, darunter Romane und erfolgreiche Reiseberichte. Mit denen wurde er ab den 1970ern berühmt. Theroux beobachtet in diesen Texten genau, aber er nörgelt auch und kritisiert. Zuletzt brach er eine Recherchereise durch Afrika ab (Ein letztes Mal in Afrika, 2017). Sie war ihm zu deprimierend verglichen mit der Aufbruchstimmung, die er bei seinen ersten Malen auf dem Kontinent verspürt hatte.

Zwietracht säen

Alles andere als Euphorie prägt auch Mutterland. Die titelgebende Mutter ist schon alt, wenn wir sie kennenlernen, hakennasig und mit hartem Blick. Ein paar Kindheitserinnerungen Jays machen sie nicht sympathischer. Die Erzählung setzt mit dem Tod des Vaters ein, der nie etwas zu melden hatte und sich irgendwann in Schweigen und stoische Ironie zurückzog, und erstreckt sich dann über 20 Jahre.

Was geschieht? Die Mutter zeigt sich jedem der Kinder als eine andere Person. Message-Control lautet das Schlagwort zu ihrem Walten als manipulative Monarchin. Daher empfängt sie die Nachfahren am liebsten separat, wenn sie sie besuchen. Das Telefon ist ihr heißer Draht, um weiteren Zwist unter den Sprösslingen zu säen. Man könnte auch Mutterkorn zu der Giftspritze sagen. Theroux vergleicht sie mit einem Diktator.

Die Kinder haben sich trotz aller Sticheleien nie von ihr und voneinander gelöst. Sie kreisen mit ihren eigenen Familien um sie und die je anderen wie Satelliten. Warum, das begreift man lange nicht. Anderswo mögen kleine und größere Geschenke die Freundschaft erhalten, hier werden sie zu Druckmitteln oder Täuschungsmanövern. Was einer jemandem anvertraut, wird gegen ihn verwendet. Eine Bitte und Dankbarkeit kommen Schwächen gleich. "Und doch erschien mir all das normal. Diese ewigen Kämpfe kamen mir irgendwie wahrer, richtiger vor als die Harmonieseligkeit, die in einigen anderen Familien herrschte" und nur verlogen sei, versucht Jay zu erklären. Andere Geschwister haben weniger aufklärerische Gründe, das Spiel so lange mitzuspielen.

Feindselige Familienfeiern

Theroux hat es nicht eilig, uns das wissen zu lassen. Überhaupt drängt es ihn nicht voranzukommen. Er geht mehr in die Breite. Das ist bei so vielen Protagonisten nicht schwer. Schon das Abklappern der jeweiligen Befindlichkeiten (die einzige Innenperspektive der Erzählung gilt dabei Jay) reicht aus, um flott den Umfang eines Wälzers zu erreichen.

In Kaskaden von Anrufen denken die Kinder einander als Erfüllungsgehilfen ihrer Mutter nur Vorwürfe zu. Es gibt feindselige Familienfeiern und beklemmende Besuche im Haus der nie Kranken – die Kinder verfallen stärker als sie. Eine tolle Pointe. Theroux kann das. Er entwirft kleine Szenen voll schwarzem Humor. Aber faszinierende Charaktere sind der Anwalt Fred, der Autor Floyd, die Lehrerinnen Rose und Franny, der Krankenpfleger Hubby und der Diplomat Gilbert keine. Ihre Psychologie ist einfach. Und die Mutter? Dass sie es schwer im Leben gehabt haben soll, taugt die Erklärung für ihr Verhalten? Dass sie Angst hat vor der Einsamkeit und die Kinder deshalb mit List an sich zu binden trachtet?

Schriftsteller hätte er immer werden wollen, sagt Theroux, das Reisen hätte ihm dann den Stoff dazu gegeben. Vielleicht weil er, wie Mutterland zeigt, sonst dazu neigt, etwas auf der Stelle zu treten. Wie Theroux ist auch Jay, durch dessen Augen wir die Geschichte erleben, (Reise-)Schriftsteller. Seine Jahre in der Ferne seien "kein Zufall gewesen", erklärt er einmal, sondern Flucht.

Biografische Parallelen zwischen der Figur und dem Autor lassen sich ergoogeln – bis hin zum Verriss, den Theroux' Bruder Alexander 1996 einem von Pauls Werken in einer Zeitschrift zukommen ließ. Theroux schreibt süffige Sätze mit einigen klugen Bemerkungen. Man muss Mutterland deshalb nicht gelesen haben. Aber man kann. Und wird es vermutlich genossen haben. Es bietet kurzweilige Unterhaltung. (Michael Wurmitzer, 12.5.2018)