Gummizellen geben Kindern keine Anreize für die motorische Entwicklung.

Foto: Getty Images / iStock / olesiabilkei

Eltern bremsen ihre Kinder beim Toben aus.

Foto: Getty Images / iStock / romrodinka

Ein Mädchen hält sich am Seil fest, kraxelt Stufe für Stufe die Kletterspinne hoch. Kaum ist es in der Mitte angelangt, warnt schon die Mutter von unten: "Nicht zu hoch!"

Eine typische Szene auf einem beliebigen Spielplatz in Österreich: Eltern bremsen ihre Kinder beim Toben aus. Kinder, die je nach Alter Erfahrungen sammeln, sich Blessuren holen, an ihre Grenzen gelangen, von vorn beginnen: Fehlanzeige. "Das Gefühl von Risiko hat sich verändert", meint Nicole Slupetzky, Bundesjugendleiterin des Alpenvereins. Panisch rotieren sogenannte "Helikoptereltern" um ihre Kinder, wollen Verletzungen vorbeugen – und schränken die Kleinen damit in ihrer Bewegung ein. Das sei der falsche Weg, meint Slupetzky. "Eltern sollen Kindern Freiräume geben, damit sie Sicherheit und Selbstbewusstsein bekommen."

Der Alpenverein registriert in seinen Sportcamps eine alarmierende Entwicklung: Kinder können sich teilweise nicht mehr auf Waldwegen bewegen, ohne hinzufallen, geschweige denn auf einen Baum klettern oder sich bei einem Sturz richtig abrollen. Schon ein Sprung aus geringer Höhe macht ihnen Angst. Sie entfremden sich immer mehr von der Natur, ihr Bewegungsgefühl ist schwach.

Eine Beobachtung, die Susanne Ring-Dimitriou wissenschaftlich belegt. Die Sportwissenschafterin hat im Zuge des Projekts "Salzburg together against obesity" (Salto) die Bewegungsfertigkeiten von 300 Kindergartenkindern in Salzburg untersucht. Die Ergebnisse sind deutlich: Bei jedem fünften Kind zwischen vier und sechs Jahren sind die motorischen Fähigkeiten nicht altersentsprechend. Zudem ist jedes vierte Kind übergewichtig oder adipös.

Manche Kinder wissen nicht mehr, wie man richtig hüpft

"Manche Kinder wissen nicht einmal mehr, wie man richtig hüpft", sagt Ring-Dimitriou. Einige können nach einem Sprung nicht richtig landen, andere holen beim Ballwerfen nicht ordentlich aus oder scheitern beim Fangen. Eine deutsche Gesundheitsbefragung ergab, dass jedes dritte Kind nicht in der Lage ist, drei Schritte rückwärtszugehen. Es sei wichtig, den Kleinen diese grundlegenden Fertigkeiten beizubringen, sagt die Sportwissenschafterin. "Denn wenn ich etwas nicht kann, dann tue ich es auch nicht gerne."

Ein Motoriktest in Kindergärten habe gezeigt, dass es enorme geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, erklärt die Salto-Projektleiterin. Mädchen sind zwar besser beim Balancieren, schneiden aber beim Ballspielen, Laufen und Springen viel schlechter ab als Buben. "Gender-Doing" nennen das Experten. "Diese Präferenzen werden früh vom Elternhaus festgelegt", sagt Ring-Dimitriou. Eltern spielten unbewusst mit Buben eher Ball und tanzten eher mit Mädchen. "Das sind tradierte Rollenbilder, die auch mit sportlichen Tätigkeiten assoziiert werden", sagt die Wissenschafterin.

Die unterschiedlichen Bewegungsniveaus sind kein neues Phänomen. Studien zeigen, dass auch früher rund 20 Prozent der Kinder unterdurchschnittlich sportlich waren. Heutige Kinder seien also nicht patscherter als jene der 70er- oder 80er-Jahre. Trotzdem hat ein Phänomen zugenommen: jenes der überbesorgten Eltern. "Manche tragen ihr Kind bis in den Gruppenraum im Kindergarten und lassen nicht los, obwohl das Kind längst wegwill", erzählt Ring-Dimitriou.

Ein etwa sechsjähriger Bub dreht das Sitzkarussell auf dem Spielplatz, so schnell es geht. Sein Bruder stoppt das Drehgerät und stellt sich an das Lenkrad in die Mitte. Von außen stößt der kleinere Bruder erneut das Karussell an, es rotiert immer wilder. Sofort greift der Papa der beiden ein. "Geh runter da. Wenn du fällst, tust du dir nur weh." Der Ältere will weiterspielen, er fühlt sich sicher. Sein Papa bleibt streng: "Runter!"

Kinder lernen Gehen durch Stürzen

"Oft sind die Eltern die Spielverderber. Die Kinder werden gebremst", sagt Slupetzky vom Alpenverein. "Dabei sollen Eltern ihre Kinder nicht vor der Welt schützen, sondern sie lehren, wie man mit möglichen Gefahren umgeht." Man könne Kindern viel mehr zutrauen. "Sie kraxeln automatisch überall rauf. Die können das auch ohne fünffachen Sicherungsschutz", betont die Vizepräsidentin des Alpenvereins. Eltern rät Slupetzky zu ein bisschen mehr Gelassenheit. Sie sollten darauf vertrauen, dass ihre Kinder ihren Weg gehen, "und der muss nicht asphaltiert sein".

Auf diesem Weg sollen Kinder auch einmal hinfallen können. "Kinder lernen gehen durch Stürzen", betont Jürgen Einwanger. Der Sozialpädagoge betreut beim Alpenverein ein Ausbildungsprogramm für Kinder und Jugendliche namens Risk'n'Fun. In den Camps sollen Kinder lernen, am Berg eigenverantwortlich zu entscheiden.

"Eltern, die ihr Kind nicht von der Hand lassen, nehmen ihm Entwicklungschancen", sagt Einwanger. Das habe Auswirkungen auf die körperliche Resonanz und die psychische Entwicklung sowie soziale Folgen. Angststörungen und Depressionen nehmen zu. Einwanger plädiert dafür, dass Kinder auch ruhig einmal raufen sollten. Es gebe auch keinen Grund, warum sie nicht den Umgang mit einem Taschenmesser lernen sollten.

Spielplätze erinnern immer mehr an abgesicherte Käfige

Doch Kinder leben heute in einer überwachteren Umgebung. Und vor allem in der Stadt sind Freiräume immer eingeschränkter. Die Architektin Anna Detzhofer kritisiert die lieblos gestalteten Spielplätze. Die erinnern sie mit ihrer Umzäunung an eine "Käfighaltung für Kinder". Schuld an den oft fantasielosen Umsetzungen sei das Bautechnikgesetz. Darin festgehalten: Ein Kinderspielplatz verfügt über eine Sandgrube, eine Rutsche, eine Schaukel und ausreichend Sitzplätze. Viele Bauträger beschränken sich auf dieses Mindestmaß.

Auch Sozialpädagoge Jürgen Einwanger hält wenig von den eingezäunten Geräten. "Spielplätze sind völlig untauglich für das, was Kinder lernen sollten." Genormte Klettergerüste seien so niedrig, dass Kinder ihre Grenzen nicht erforschen könnten, dazu fehle die Möglichkeit zum Toben. Am schlimmsten findet Sportwissenschafterin Susanne Ring-Dimitriou die "Gummizellen" in Einkaufszentren, in denen die Kinder geparkt werden. "Dort sitzen sie nur rum oder verstecken sich. Aber Kinder müssen hinfallen, mit Gatsch und Schmutz in Berührung kommen, in der Erde wühlen."

Trotzdem sei es immer noch besser, die Kinder auf die Spielplätze zu schicken, als sie zu Hause in Watte zu packen. "Draußen treffen sie auf andere Kinder, fordern einander heraus und lernen von den Älteren." Vorausgesetzt, die Eltern lassen es zu.

Ein Spielplatz in Wien, immerhin mit kleinem Hügel. Ein Bub legt sich auf den Boden, rollt den Grasabhang runter. Zwei Mädchen beobachten ihn erst skeptisch, dann kugeln sie kichernd hinter ihm her. "Nicht, ihr werdets dreckig und hauts euch an", keppeln die Mütter von der Bank herüber. Dabei geht nichts darüber, richtig zu fallen. Das schult fürs Leben. (Stefanie Ruep, 13.5.2018)