Er hat natürlich viel zu tun. Mit dem Boston Symphony Orchestra nimmt Andris Nelsons alle Schostakowitsch-Symphonien auf, mit dem Gewandhausorchester Leipzig jene von Anton Bruckner. Und mit den Wiener Philharmonikern verewigt der 39-Jährige für die Deutsche Grammophon bis 2019 alle Beethoven-Symphonien. Da blickt vielleicht sogar Herbert von Karajan ein wenig neidvoll von seinem Wolkenpalast aus dem Klassikhimmel herunter.

Begrenzt pointiert

Doch das hohe Arbeitspensum scheint seinen Tribut zu fordern, denn Nelsons wirkte am Samstagnachmittag bei Beethovens Neunter im Musikverein ausgelaugt. Und auch seine Deutung von Beethovens Gipfelwerk war – im Gegensatz zu seinen lukullisch-vitalen Interpretationen der Siebten und der Achten im vergangenen Herbst – kaum mehr als eine belanglose, beliebige Dutzendarbeit: begrenzt pointiert, nie überraschend, selten aufwühlend.

Von Beethovens fixen Metronom-Angaben, denen immer mehr Orchesterleiter (wie etwa auch Nelsons‘ Leipziger Vorgänger Riccardo Chailly) vertrauen, hält der Lette nichts: Der erste Satz war nicht nur frei von jeder Schroffheit, sondern wurde auch auf eine behäbige, breitschultrige Art musiziert, ja beinahe buchstabiert; von den harten äußeren und innerlichen Kriegshändeln, wie sie etwa John Eliot Gardiner hier darzustellen weiß, war nichts zu hören.

Wohlklangnarkotikum

Die Philharmoniker musizierten mit überschaubarem Einsatz und gesichtsloser Servilität und fanden auch, wie etwa im Scherzo, nicht immer zur letzten Präzision: Da haben die Symphoniker unter Philippe Jordan jüngst nicht nur deutlich farbenprächtigere, aufreibendere Beethoven-Interpretationen geboten, sondern auch um Welten engagierter musiziert.

Nach dem langsamen Satz, der zum Wohlklangnarkotikum wurde, erfrischten beim großen Finale die Sangeskräfte: Der Wiener Singverein belebte den Fortgang der klingenden Dinge mit federnder Dynamik und freudestrahlenden Mienen, wie auch das hochkarätige Solistenquartett (Camilla Nylund, Gerhild Romberger, Klaus Florian Vogt, Georg Zeppenfeld) erfrischte. Beifall für eine in vielerlei Hinsicht mittelmäßige Deutung der Neunten. (Stefan Ender, 13.5.2018)