STANDARD: Sie waren mehr als 27 Jahre lang Österreichs zentrale Ansprechfigur für Gleichbehandlungsfragen, haben tagtäglich Geschichten von Diskriminierung gehört. Was haben Sie dabei über diese Gesellschaft gelernt?
Nikolay-Leitner: Dass es nie aufhört. Sobald man eine Pause einlegt, gibt's schon den nächsten Rückschlag. Das ist der Gleichbehandlungsarbeit immanent, weil der Einsatz für Gleichbehandlung ja auch immer gegen die vorherrschenden gesellschaftlichen Kräfte geht.
STANDARD: Sie sprechen von Rückschlägen. Ist es also nicht so, dass die Frauen im Lauf der Jahrzehnte immer ein wenig mehr Rechte dazugewonnen haben? Ging es nicht kontinuierlich bergauf?
Nikolay-Leitner: Es gibt einen Fortschritt, aber er ist nicht kontinuierlich, je nach Zeitpunkt unterschiedlich schnell, und es gibt Rückschläge.
STANDARD: Welche zum Beispiel?
Nikolay-Leitner: Es ist fast wie im Märchen, wo man durch eine Grießbreimauer durchmuss, um ins Schlaraffenland zu kommen – und der Brei rutscht immer zurück. Kaum hört man auf, gegen Diskriminierung anzugehen, rutscht es zurück. Ein gutes Beispiel sind die ungleichen Einkommen. Unternehmen haben immer behauptet: Bei uns gibt es keine Unterschiede, es wird nicht diskriminiert. Dabei haben sie es nicht einmal erhoben. Jetzt werden zwar Einkommensberichte gemacht, aber geändert hat sich trotzdem nicht viel. Zugleich ist die Retourkutsche gekommen.
STANDARD: Welche Retourkutsche?
Nikolay-Leitner: Die Rhetorik hat sich geändert. Jetzt hört man oft: Das mit dem ungleichen Lohn für gleiche Leistung ist nur ein Märchen, und wer etwas anderes behauptet, erzählt einen Blödsinn. Auch namhafte Nachrichtenmagazine sind aufgesprungen und haben behauptet, das sei alles nur ein großer Bluff. Das alte Argument "Das gibt es bei anderen, aber bei uns nicht" ist ersetzt worden durch "Das gibt es überhaupt nicht".
STANDARD: Was würden Sie jemandem antworten, der sagt: Würden Frauen nicht so oft Teilzeit arbeiten und schlechte Jobs annehmen, dann wären sie auch besser bezahlt, dann gäbe es keinen Unterschied zu Männergehältern.
Nikolay-Leitner: Dass es den Unterschied sehr wohl gibt, ist oft genug dargestellt worden, und die, die sich wirklich damit beschäftigt haben, wissen es. Wie viel Prozent des Einkommensunterschiedes tatsächlich nicht erklärbar sind, außer mit Diskriminierung – diese Zahlen liegen ja auf dem Tisch. Trotzdem wird an die Neutralität und die Gerechtigkeit geglaubt. Ich kann mich gut an ein Radiointerview erinnern, wo der Interviewer immer wieder darauf gepocht hat, dass doch die Kollektivvertragsbestimmungen für alle gleich sind. Was ja auch stimmt. Nur: Wenn ich sie dann unterschiedlich anwende und jedes Mal, wenn eine Frau in der Tür steht, eine andere Lade herausziehe, als wenn ein Mann in der Tür steht, und ich ihm automatisch technische Kenntnis zuordne und ihr nicht – dann nutzt die ganze Neutralität nichts. Aber der Glaube an die faire Bezahlung ist sehr stark.
STANDARD: Immer wieder werden Frauen beim Aufstieg in Unternehmen benachteiligt. Wie aber beweist man, dass sie den Job nicht gekriegt hat, weil sie eine Frau ist?
Nikolay-Leitner: Früher war es so: Da haben die Mitglieder in der Gleichbehandlungskommission es oft noch geglaubt, wenn der Unternehmer gesagt hat: Die Frau hat halt weniger Führungsqualität, darum kriegt sie die höhere Position nicht. Beim ersten Mal waren die Kommissionsmitglieder noch sicher, dass das stimmt. Beim fünften Mal, bei der fünften Frau schon nicht mehr. Weil es einfach nicht mehr glaubwürdig ist, wenn immer dasselbe Argument kommt. Das ist ein Phänomen, das ich immer wieder beobachtet habe: Menschen, die sich nur wenige Male in ihrem Leben mit Diskriminierung beschäftigen, sehen die Diskriminierung nicht. Haben sie öfter damit zu tun, ändert sich das. Dann sehen sie die Struktur dahinter.
STANDARD: Man hört oft das Argument: Frauen verhandeln einfach zu schlecht oder geben sich schneller mit niedrigen Gehältern zufrieden.
Nikolay-Leitner: Es gibt da ein wunderschönes Urteil des Obersten Gerichtshofs, wo eindeutig festgestellt wird: Es ist der Arbeitgeber, der verantwortlich ist, gleiche Leistung gleich zu bezahlen – und diese Verantwortung kann nicht den Frauen zugeschoben werden. Es gibt außerdem ein Phänomen: Wenn Frauen das Gleiche verlangen wie Männer, kriegen sie oft den Job nicht, weil es bei Frauen als Anmaßung empfunden wird. Während man beim Mann sagt: Wow, der ist aber tüchtig. Das passiert auch weiblichen Vorgesetzten – die sind ja in keiner anderen Welt sozialisiert.
STANDARD: Was bringt Manager dazu, Frauen schlechter einzustufen als Männer? Ist das ein bewusster Vorgang?
Nikolay-Leitner: Meistens nicht, nein. Es ist Tradition, es basiert auf unbewussten Annahmen, auf Vorurteilen. Es sind aber nicht nur Vorurteile, es gibt auch Widerstände: Die, die auf der schiefen Ebene oben sitzen, haben sehr viel dagegen, wenn es geradegerichtet wird, weil sie das Gefühl haben, es geht für sie nach unten. Ich vergesse nie: Die Metallgewerkschaft hat bei einer Kollektivvertragsrunde die Lohnerhöhung einmal ungleich verteilt. Sie hat die untersten Einkommensgruppen weit stärker bevorteilt als die anderen. Das war gut so. Nur: Im nächsten Jahr haben die oberen Gruppen heftigst protestiert, dass jetzt aber sie dran sind mit der überproportionalen Bevorteilung. Und so wurde es dann auch gemacht.
STANDARD: Auch Frauenquoten sind ein Versuch, ein Missverhältnis auszugleichen.
Nikolay-Leitner: Ja, und nichts ruft so viel Ärger hervor. Bei jeder Form von positiver Aktion gibt es viele Beschwerden von Männern, weil sich das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen immer nach dem richtet, was besteht. Was wir hier machen, ist aber Veränderung. Deshalb ist es so schwierig.
STANDARD: Neigt der Mensch also dazu, die Verhältnisse, unter denen er leidet, als gerecht zu empfinden, weil es zu anstrengend wäre, sie zu verändern?
Nikolay-Leitner: Ja, wobei das eher ein Gefühl ist, kein intellektuelles Statement. Man empfindet es vielleicht nicht als gerecht, aber doch irgendwie als richtig. Weil es sonst Ärger gibt. Wenn jemand sagt, ich verdiene hier zu wenig, dann wird das ein massiver Konflikt. Deshalb sind viele sehr lange geduldig und melden Diskriminierungen nicht, weil es auf kürzere Sicht doch einfacher erscheint, sich mit der Situation zu arrangieren und zu sagen: Okay, ich erspare mir den Ärger. Auf lange Sicht deprimiert es aber gewaltig. Es ist immer eine Wahl zwischen Pest und Cholera. (Maria Sterkl, 14.5.2018)