Israel hat mit einem nur dem Schein nach ulkigen Partysong den Eurovision Song Contest 2018 in Lissabon gewonnen. Netta Barzilai hat mit "Toy" eine Hymne für die Selbstbestimmtheit von Frauen dargeboten, verpackt in einen treibenden Mizrachi-Beat, komponiert von Doron Medalie und Stav Beger. Die Umsetzung für die ESC-Bühne war sehr fröhlich, energetisch und voller Farben. Das darf nicht davon ablenken, dass Netta klare Worte an all diejenigen schickte, die glauben, Frauen kontrollieren zu können. Wenn sie etwa auf Hebräisch "Ani lo buba" singt, verbirgt sich dahinter "Ich bin nicht deine Puppe".

Netta Barzilai gewinnt mit feministischer Botschaft für Israel.
Foto: Andres Putting, EBU

Gackern gegen Hohn und Spott

Bereits der Beginn des Songs macht es deutlich. Netta steht mit all ihrer Pracht in ihrem Manga-Outfit auf der Bühne, unterstreicht dabei, optisch nicht den gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen. Sie lächelt in die Kamera und beginnt ihren Song mit der Textzeile "Schau mich an, ich bin ein schönes Geschöpf". Bumm, das sitzt. Das überzeugte offenbar Europa, und so gewann sie vor der zypriotischen Beyoncé, die – in genialer Choreografie und mit ebenso fetzigem Song – genau diesem Schönheitsideal mit viel Schminke und hautengem Kostüm entsprechen wollte, aber Zweitplatzierte wurde.

In zahlreichen Zeitungskommentare über den israelischen Beitrag durfte man auch vom "schrillen Gegacker" lesen, ohne dessen tiefere Bedeutung zu unterstreichen. Netta erzählte unermüdlich, dass dieses Gackern ein Signal sei, dass Männer, die Frauen wie Spielzeug behandeln, in ihren Augen Feiglinge sind – was im Englischen auch mit "chicken" umschrieben wird. Netta selbst war oft Spott, Hohn und Ausgrenzung ausgesetzt, weil sie nicht rank und schlank ist. Sie lernte daraus, die Kraft zu entwickeln, sich zu wehren und stolz auf sich zu sein. Deshalb gewann sie. Denn diese Botschaft geht weit über das Frauenthema hinaus, sie lautet: Du bist gut, so wie du bist, egal was die anderen sagen.

Österreichs Neupositionierung in der Eurovision-Welt

Die Ausgabe 2018 schrie aufgrund der vielen originellen und vielfältigen Beiträge geradezu nach einem Außenseiter, die Frage war nur, welcher Act den Favoritinnen aus Israel und Zypern gefährlich werden könnte. Spekulationen im Vorfeld gab es Unmengen. Würden Metal-Fans sich europaweit organisieren und den ungarischen Beitrag pushen? Sollte das stille Litauen einen Salvador-Sobral-Moment erzeugen können? Könnte Alexander Rybak für Norwegen ein zweites Mal gewinnen oder der deutsche Ed Sheeran sich in die Herzen Europas singen? Als die Jurypunkte durchgegeben wurden, war klar, wer die Überraschung des Abends werden würde, und das war nun wirklich eine Überraschung: Österreich.

Die Überraschung des Abends kam aus Österreich: dritter Platz für Cesár Sampson.
Foto: Andres Putting, EBU

Cesár Sampson überzeugte die Jurys vollends, und sie ließ ihn gewinnen, beim Televoting erreichte er zumindest ein Achtungsergebnis und den 13. Platz. In der Kombination war das Platz drei und die Bronzemedaille für den österreichischen Beitrag und somit auch der dritterfolgreichste Beitrag in der Geschichte Österreichs. Dass die Profis aus Radio, Musikbusiness und Unterhaltung den Österreicher zum Sieger erklärten, kann Hoffnung für seine Karriere und viele Radioeinsätze bedeuten.

Österreich galt immer als etwas schwieriger Kandidat in der Song-Contest-Welt. 2007 zog man sich sogar für einige Jahre beleidigt zurück, weil die Ergebnisse nicht passten. Seit der Rückkehr 2011 gelangen bei sieben Einsätzen fünf Finalplätze. Österreich ist mittlerweile Fixpunkt in der ESC-Welt, wird ernst genommen und respektiert. "Ich würde uns noch nicht mit Schweden gleichstellen", wie ORF-Kommentator Andi Knoll nach dem Finale sagte, aber: "Es geht in eine gute Richtung. Die Qualität unserer Songs ist sehr cool. Wir waren nie peinlich." Der österreichische Delegationschef Stefan Zechner will auch deshalb weiterarbeiten: "Unser Weg der letzten Jahre war richtig, wir wollten auf Qualität und nicht auf Schrilles setzen." Es gehe aber auch darum, die heimische Pop- und Kulturszene zu fördern und den ESC als Plattform anzubieten: "Akzeptanz bei den Musikern zu finden ist wichtig. So können wir uns stärker auch als Popmusikland international positionieren. Als Klassikland ist uns das ja gelungen."

Eberhard Forcher, Ö3-Redakteur und Act-Scout für den Eurovision Song Contest, wühlt sich jedes Jahr durch die Youtube-Accounts, um vielversprechende Acts zu finden. An diesem Erfolgskonzept will man offenbar festhalten. Zechner dazu: "Eberhard Forcher kennt wie kaum ein anderer die österreichische Musikszene. Sein Riesenvorteil aber: Er hat kein Eigeninteresse, sondern will fördern. Er und der Rest des Teams arbeiten einfach sehr gut zusammen."

Auch Cesár Sampson kann sich einen weiteren Einsatz beim Song Contest vorstellen, wie er mir nach seinem dritten Platz sagte: "ich liebe den Eurovision Song Contest. Ich werde gerne wieder versuchen, mit meinem Team etwas beizutragen." Also durchaus wahrscheinlich, dass er als Songwriter der Symphonics, als Backgroundsänger oder gar wieder als Interpret zu einem Song Contest antreten wird.

Portugal bleibt Portugal

Salvador Sobral war der Liebling der Herzen und gewann 2017 in Kiew. Dass er den Song Contest nach Lissabon brachte, freute die Portugiesen, aber wirklich warm wird man auch auf heimischem Boden mit dem Bewerb nicht. Portugal hat eine sehr eigene Musiktradition, wie auch im Rahmenprogramm sicht- und hörbar wurde. Bejubelten die Portugiesen die Fado-Klänge Marizas und die jazzige Interpretationen von Salvador Sobral und Caetano Veloso vor der Punktevergabe, sah man viele ratlose Gesichter in der Arena, die nicht wussten, was sie damit anfangen sollten. "Das ist mir zu depressiv", meinte ein deutscher Fan neben mir.

Im Stadtgeschehen merkte man keine große Begeisterung für den Song Contest. Vielmehr wirkten die Einwohner Lissabons etwas genervt. Neben dem Gesangswettbewerb war auch langes Wochenende in vielen Ländern angesagt, und somit waren tausende Touristen in die wunderschöne Stadt am Tejo gekommen. Die Stadt war seit Tagen überfüllt, die Gassen und Plätze der Innenstadt de facto unpassierbar, die Bars und Clubs – insbesondere in der Schwulenszene – hoffnungslos überfüllt.

Der letzte Platz Portugals im Finale wird vermutlich auch nicht dazu beigetragen haben, dass eine neue ESC-Begeisterung ausbricht. Portugal wird wohl so ein Ausnahmeland bleiben, das Beiträge schicken wird, mit denen Europa weniger anfangen kann – bis irgendwann so ein Song von einem neuen Sobral vorgetragen wird. Und irgendwie ist genau das charmant. Dafür werden Lissabon und die Entspanntheit, aber auch die ungeheure Freundlichkeit seiner Einwohner in Erinnerung bleiben.

Auf nach Israel

Jetzt wird der Israelische Sender Kan den Bewerb 2019 ausrichten müssen. Für die Fans des Song Contest käme wohl nur eine Stadt infrage, in der man Party feiern möchte und die bekannt für ihre Offenheit, ihre große Gay-Community und ihre vielen Clubs ist: Tel Aviv. Jerusalem scheint jedoch der logische Austragungsort aus logistischer und vor allem politischer Sicht. Die Hauptstadt hat mit der 2014 eröffneten Pais-Arena eine Halle, in der 15.000 Menschen Platz finden. Das pulsierende Tel Aviv wird nächstes Jahr mittels einer neuen Schnellzugverbindung in Windeseile erreichbar sein.

Notorische Boykottaufrufe, wie man sie von antijüdischen und antisemitischen Gruppen immer wieder gehört hat, sind bislang nicht laut geworden. Es ist zu erwarten, dass sie bald laut werden. 2019 in Jerusalem wird sicher wieder spannend. Auch hier in diesem Blog. (Marco Schreuder, 14.5.2018)