"Das Alte Testament": In der multimedialen Revue in Graz wird der Zuschauerraum zur Bühne.


Foto: Lupi Spuma

Graz – Welch lange Weile es doch dauert, ehe der Schlusssatz fällt: "Flieh, mein Freund!" Bis dahin heißt es drei Stunden Nachsitzen in Sachen Altes Testament. Auf Kartonwürfeln.

Im Klassenraum, der von hohen Leinwänden oval umspannt ist, liegen Pappquader gestapelt. Sie dienen den Lehrenden als Kulisse und Podesten, dem zu belehrenden Auditorium als unbequeme Sitzgelegenheit. Dies regt zumindest die Wachsamkeit an für die lange Reise, auf die Regisseur Volker Hesse seine Truppe und sein Publikum schickt.

Hesse wuchtet den kolossalen Stoff des Alten Testaments auf die Bühne des Schauspielhaus Graz und jagt seine Truppe durch die Epochen, durch all die Legenden, Märchen und großen Erzählungen: von der Schöpfung über die Josefsgeschichte, den Turmbau, die Zehn Gebote, die Sprachverwirrung, die Plagen und die Sintflut bis zum Land der Verheißung. Er lässt sie menschliche Entgrenzungen erleben und unendliche Gottesfurcht – die beinahe den Vater Abraham zum Mörder seines Sohnes Isaak macht.

Volker Hesse, der in der letzten Saison mit Ayad Akhtars Geächtet am Grazer Haus reüssiert hat, räumt für sein Altes Testament – aus dem Tagebuch der Menschheit die Bühne leer, verfrachtet die Zuschauer unter das Gebälk der Bühnentechnik und lässt die Schauspieler auf die Gäste los. Er vermischt die Ebenen, lässt das Publikum selbst tätig werden und animiert sie – als Einstieg in den langen multimedialen Bibelabend -, Texte der Genesis zu lesen.

Nummernrevue

Hesse versucht, mit monumentalen Bildern und Projektionen von Flüchtlingsszenen aus Spielfeld 2015 und zerbombten Städten im Nahen Osten – ganz im Sinne Piscator'scher Inszenierungsprinzipien – Bezüge zu den heutigen Welterschütterungen herzustellen. "Flieh, mein Freund!", damals wie heute – will Hesse mahnen – sind die Menschen auf der Flucht und auf der Suche nach Schutz.

Das Ensemble – mit Altmeister Gerhard Balluch als überzeugender Noah und Pharao vorneweg – müht sich engagiert durch die Originaltextstellen. In dieser kulinarisch dargebotenen Form geben sie aber letztlich nicht viel mehr her als eine anekdotenhafte Nummernrevue. Die von Hesse aufgebauten Assoziationsstränge zu den heutigen Menschheitstragödien funktionieren nicht wirklich. Sie sind zu dünn.

Was auf Grundlage des Glaubensschriftwerks möglich gewesen wäre, ist nur in wenigen Sequenzen, etwa als Esau (Florian Köhler) den Vater um dessen Segen anfleht, zu spüren. Hier überzeugt Hesse mit Tiefe und Qualität.

Das gewaltige Geschichtswerk birgt unendliche Substanz. Alles auf einmal auf die Bühne zu werfen ist ein Fehler. Eine Verdichtung, ein Destillat- und es hätte ein großer Abend werden können. (Walter Müller, 14.5.2018)