Ulrich Köhlers "In My Room".

Foto: Filmfestival Cannes

"Burning" von Lee Chang-Dong.

Foto: Filmfestival Cannes

Dass die 71. Ausgabe des Festivals dem Ende zugeht, ist unübersehbar. Die ersten Menschen kommen mir schon mit Rollkoffern entgegen. Auch die Warteschlangen vor den Kinos werden kürzer. Kaum noch werden in der Früh vor den Kinos Branchenblätter verteilt. Nur der Verkäufer der Tageszeitung Libération – er macht das schon seit Jahren – ruft noch sein schallendes "Libé! Libé!".

Auch auf der Leinwand macht sich eine seltsame Leere breit. In In My Room, dem neuen Film von Ulrich Köhler (Montags kommen die Fenster), hält Armin (Hans Löw) eines Tages an einer Tankstelle, wo es so aussieht, als hätten alle in Panik die Flucht ergriffen. Allerdings nicht nur dort: Ein Schiff treibt geisterhaft im Fluss. Niemand ist in den Supermärkten, niemand auf den Straßen. Autos stehen wie vergessenes Spielzeug im Weg herum.

Cine maldito

Solche Szenarien der Entvölkerung sind aus Genrefilmen vertraut. Köhler schaltet diese Idee einer plötzlich entfremdeten Welt allerdings mit dem Zustand seines Durchschnittshelden kurz. In den ersten vierzig Minuten des Films erleben wir diesen als zivilisationsmüden Einzelgänger, so unaufgeweckt und schlapp, dass er eine junge Frau gleich wieder aus seiner Wohnung vertreibt. Doch ganz so einseitig ist es nicht: Als Armin seinen Kopf an jenen seiner sterbenden Großmutter schmiegt, zeigt der Film in einer einzigen innigen Geste, dass in ihm immer noch ein Feuer brennt.

Surrealist der Berliner Schule

Und dann ein Fall von verkehrter Welt: Für Armin wird die nie näher bestimmte Katastrophe zu einer Chance eines Neuanfangs, den er allein vermutlich nie hingekriegt hätte. Er fährt nach Italien, allerdings nicht ans Meer, sondern in die Natur, wo er sich an einem Leben versucht, wie es schon Henry David Thoreau in Walden als Kontrast zur industriellen Gesellschaft entworfen hat.

Köhler nahm innerhalb der sogenannten Berliner Schule schon immer ein wenig die Rolle des Surrealisten ein. Diesmal treibt ihn die Sehnsucht nach einer Utopie zu einer realistischen Parabel. Vermittelt, nie überdeutlich klingen in diesem Gegenentwurf große Fragen an: Wie viel vom Alten steckt in einem Neuanfang? Und wie kann man gemeinsam glücklich werden, wenn jeder darunter etwas anderes versteht?

Murakami in vollendeter Konzentration

In Burning, einem der späten Höhepunkte im Wettbewerb, lerne ich gleich noch einen einsamen Helden kennen, der mit der Gesellschaft im Argen liegt. Der Südkoreaner Lee Chang-Dong (Secret Sunshine) hat eine Kurzgeschichte von Haruki Murakami auf stimmige Weise auf die Verhältnisse seines Landes übertragen. Es ist ein Film von großer Ruhe und Konzentration, der im scheuen Lee Jongsu (Ah-in Yoo) eine der denkwürdigsten Figuren des Festivals hat.

The Upcoming

Anstatt Taten zu setzen und seinem Leben eine Richtung zu verleihen, etwa einer Frau (Jeon Jong Seo) seine Liebe zu gestehen, verharrt er in der Rolle des introvertierten Beobachters. Durch einen mysteriösen, Gatsby-haften Gegenspieler (Steven Yeung), der für die neureiche Klasse steht, scheint er dann zunehmend manipuliert zu werden. Oder auch nicht, sicher ist hier nichts. Denn Lee Chang-Dong betreibt ein luzides Spiel mit Unsicherheiten, in dem am Ende nicht das Feuer fängt, was man am ehesten erwartet.

Ob Lee Chang-Dong zu den Gewinnern des Festivals gehört, wird sich am Samstagabend herausstellen: Da werden nämlich die Preise verliehen. (Dominik Kamalzadeh, 17.5.2018)