Aron und Stefanie.

Foto: Stefanie Sargnagel
DER STANDARD
Foto: Aron Rosenfeld

STEFANIE SARGNAGEL: Nach einem rauschigen Abend in St. Pölten besinnen wir uns wieder auf das wesentliche Motiv unserer Reise: unseren unstillbaren Durst nach Geschichte und Kultur, unsere Sehnsucht nach Heimat und Identität. Das geschichtsträchitge Melk wird daher das nächste logische Ziel.

Unser unvollständiges Zelt tausche ich im Traisenpark um, dabei verlieren wir Stunden. An der Bushaltestelle spricht mich eine junge Frau an, die mich als Sargnagel erkennt – ich möchte meine Mütze die meiste Zeit unten lassen, nach drei Tagen ohne Dusche setzte ich sie aber dann doch lieber auf – und mir eine Mitfahrgelegenheit zurück zum Bahnhof anbietet, wo Aron seit Stunden eifrig an seinem Text schleift.

Als wir gerade erst das Schild fertig beschriftet haben, bleibt schon jemand stehen – die kürzeste Wartezeit, die wir je hatten. Mustafa, der an einer Wiener Volksschule türkischen Muttersprachenunterricht gibt, nimmt uns mit. Er pendelt täglich zwei Stunden nach Wien. Als wir von unserer Reise erzählen, kommen wir auf die Synagogenbesuche zu sprechen. "Als Moslem dürfte ich da aber nicht rein?", fragt er unverblümt und dann, ob wir beide Juden seien. Aron bejaht und erzählt, dass muslimische Schülergruppen häufig Synagogen besuchen.

Mustafa meint anerkennend, dass Aron ihm gegenüber so locker sei. Er hätte das Gefühl, Juden würden nicht mit ihm sprechen, sobald sie wüssten, dass er Moslem sei. Man ist sich einig, dass man sich sympathisch ist und dass die Religion keine Rolle spielt. Dann tauschen die beiden Telefonnummern. So lösen sie am Weg zum katholischen Stift Melk in nur 15 Minuten den gesamten Nahostkonflikt.


Foto: Stefanie Sargnagel

ARON ROSENFELD: In der alten Klosterstadt trennen wir uns von Mustafa und stapfen mit unserem Marschgepäck auf der Suche nach einem Zeltplatz über die Brücke zum anderen Ufer des hiesigen Donauarms. Wir errichten unsere Schlafstätte im Dickicht des schattigen Mischwaldes und sind im Grunde zufrieden mit der Lage, aber ein kleines bisschen besorgt über tollwütige Mönche, die einheimischen Legenden zufolge des Nachts im Wald mit den Wölfen heulen oder wahnsinnig wurden, weil sie zu lange auf die illusionistischen Deckenfreskos der Klosterbibliothek starrten und nun bei Vollmond manisch durch die Gegend irren und jeden Entgegenkommenden, Speichel vor dem Mund, mit ihrem Rosenkranz erwürgen.

In Melk ist der Heilige Koloman allgegenwärtig, der seit der Überführung seines wundersam unverwesten Leichnams in die Stiftskirche als Schutzpatron der Umgebung fungiert. Seine Geschichte ist schnell erzählt: Der Sohn des Königs von Irland befand sich auf einer Wallfahrt zu den heiligen Stätten in Jerusalem, doch seine Reise endete jäh, denn im Gegensatz zu uns wurde er bereits in Stockerau an einem Holunderbusch stranguliert. (Stefanie Sargnagel, Aron Rosenfeld, 21.5.2018)