"Es ist interessant, dass für viele die Religion kein praktizierter Glaube mehr ist, sie in ihr trotzdem eine wichtige Dimension ihrer Identität sehen", sagt Charles Taylor. Der vielfach preisgekrönte Philosoph forscht zu Religion und Säkularität.

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Ob Religion und Säkularismus, Multikulturalismus oder der Krieg gegen den Terror: Charles Taylor gräbt sich in jedes noch so heikle gesellschaftliche Streitthema. Der 1931 in Montreal geborene Theoretiker gilt als einer der wichtigsten Philosophen der Gegenwart. Seit 2009 ist er Gastforscher in Wien.

STANDARD: "Gott ist tot", sagte einst Nietzsche. Wie er erwarteten viele Philosophen, Theologen und Soziologen, dass die Religion in modernen Gesellschaften über kurz oder lang verschwinden würde. Leben wir heute in einer säkularen Gesellschaft?

Charles Taylor: Es war ein Irrtum, dass es eine zwangsläufige Entwicklung weg von der Religion gibt. Religion ist nach wie vor Teil unserer westlichen Gesellschaften. Zwar gibt es regionale Unterschiede. So sind im Gebiet der ehemaligen DDR nur wenige Menschen gläubig. In den USA etwa sind es aber nach wie vor sehr viele. Säkularisierung besteht insoweit nicht darin, dass Religion verschwindet. Säkularisierung hat vielmehr mit zunehmendem weltanschaulichem Pluralismus zu tun.

STANDARD: Worin besteht dieser Pluralismus?

Taylor: Einst war es selbstverständlich, an Gott zu glauben. Heute ist das nur eine Option unter anderen. Neben die traditionellen Konfessionen tritt eine Vielzahl von Arten und Weisen, sich religiös, nichtreligiös oder auch antireligiös zu bekennen. Traditionen vermischen und verändern sich: Denken Sie etwa an die Bedeutung östlicher Religionen im Westen oder daran, dass viele Personen angeben, religiös gläubig zu sein, sich aber keiner Konfession zuordnen wollen. Diese Pluralisierung ist es, die den Säkularismus heutiger westlicher Gesellschaften ausmacht.

STANDARD: Einige westliche Gesellschaften scheinen sich heute wieder stärker auf ihr "jüdisch-christliches Erbe" zu besinnen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Taylor: Unsere Geschichte ist Teil unserer Identität. Es ist interessant, dass viele, für die Religion kein praktizierter Glaube mehr ist, in ihr trotzdem eine wichtige Dimension ihrer Identität sehen. Religion wird dann kulturell verstanden und kann in einem Atemzug etwa mit der Aufklärung genannt werden. Doch wenn Leute sagen, dass der Islam unserer jüdisch-christlichen Prägung wegen nicht zu uns gehört, so widerspricht das nicht nur der Tatsache, dass islamische Philosophen im Mittelalter eine herausragende Rolle spielten. Es widerspricht auch dem Geist unserer demokratischen Verfassungen, die auf Gleichheit und Inklusion abzielen. Jede Form von Leitkultur ist der falsche Weg, um mit religiöser und kultureller Vielfalt umzugehen. Was wir verlangen sollten, ist ein Einverständnis mit den Regeln gütlichen Zusammenlebens, nicht völlige Assimilation.

STANDARD: Doch was, wenn Leute diese Regeln aus religiösen Gründen ablehnen?

Taylor: Offenheit bedeutet nicht, seine Werte und Prinzipien über Bord zu werfen. Wenn Leute Gebräuche haben, die den Gesetzen widersprechen – etwa bei der Gleichberechtigung der Geschlechter -, dann haben die Gesetze klar Vorrang. Doch das ist nicht so problematisch, wie manchmal angenommen wird. Als ich in Quebec Teil einer Kommission war, die sich mit Fragen der Zuwanderung und des interkulturellen Zusammenlebens beschäftigte, fragte ich Zuwanderer nach ihren Motiven. Als Erstes sagten sie stets "Freiheit", direkt gefolgt vom Wunsch, ihren Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen. Sie kommen gerade, weil sie Teil unserer Zivilisation und ihrer Werte werden wollen. Doch begegnet man ihnen mit Misstrauen, hält sie auf Distanz oder stigmatisiert sie gar, verlieren sie das Gefühl, dazuzugehören, und wenden sich ab. Das ist für unsere Demokratien sehr gefährlich.

STANDARD: Wie sehen Sie Verbote religiöser Bekleidungen im öffentlichen Raum?

Taylor: Dahinter stehen oft fragwürdige Überlegungen. Nehmen Sie das Kopftuch als Beispiel. Die Befürworter von Verboten argumentieren, das Kopftuch sei ein Symbol für die Unterdrückung der Frau. Doch so würden Gesetze beginnen, die inneren Beweggründe von Personen zu beurteilen. Das geht zu weit und entspricht nicht dem Geist unserer Verfassungen. Tatsächlich zeigen Studien, dass Mädchen Kopftücher aus verschiedenen, oft vertretbaren Gründen tragen. Gesetze sollten die inneren Motive von Personen respektieren, solange daraus keine Schäden für andere entstehen – selbst wenn sie uns nicht gefallen mögen.

STANDARD: Reicht es also, wenn sich alle an die Gesetze halten?

Taylor: Nein. Für eine lebendige Demokratie braucht es auch gesellschaftlichen Zusammenhalt, wechselseitiges Vertrauen und Solidarität. Vor allem müssen sich die Bürger als Akteure eines gemeinsamen Ziels oder Projektes verstehen, der Verwirklichung von Demokratie und Menschenrechten. Jürgen Habermas hat dafür den Begriff "Verfassungspatriotismus" geprägt. Dieser Patriotismus ist geprägt von einer besonderen Beziehung zum eigenen Land und starken Gefühlen wie Stolz oder Scham über seine Entwicklung. Fehlt diese affektive Beziehung, so läuft die Demokratie Gefahr, zu verschwinden. Im Fall Kanadas ist dieses Projekt der Multikulturalismus, in leicht abgewandelter Form in Quebec der Interkulturalismus. Er ist dort Teil der Verfassung, und viele kanadische Bürger sind sehr stolz darauf, gemeinsam ein Land geschaffen zu haben und zu schaffen, in dem Menschen mit Wurzeln in Europa, Asien und anderen Teilen der Welt zusammenleben und ihre Gegensätze überwinden. (Miguel de la Riva, 27.5.2018)