Vor zwei Jahren hat Roman Neustädter zwei weitreichende Entscheidungen getroffen: Er nahm die russische Staatsbürgerschaft an und verließ den FC Schalke 04 in Richtung Fenerbahce SK. Bei der WM hat der 30-jährige Innenverteidiger nun gute Chancen auf einen Einsatz. Im ballesterer-Interview spricht er über seinen Länderwechsel, Teamchef Stanislaw Tschertschessow und die Berichterstattung über das Gastgeberland.
ballesterer: Sie haben 2016 die russische Staatsbürgerschaft angenommen. Warum?
Roman Neustädter: Meine Eltern stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Ich bin in Dnipropetrowsk in der heutigen Ukraine geboren, mein Vater hat damals dort Fußball gespielt. Als ich vier war, sind wir nach Deutschland gezogen. Ich habe aber nie den Bezug zu Russland verloren und weiß genau, wo ich herkomme. Als die Anfrage vom russischen Fußballverband gekommen ist, habe ich nicht lange nachdenken müssen. Die Hälfte meiner Familie wohnt in Russland, diesen Teil der Familie habe ich mit der Entscheidung glücklich gemacht. Ich bin Deutschrusse, wie man sagt. Ich trage beide Nationalitäten, beide Mentalitäten in mir.
ballesterer: Wie äußert sich das?
Neustädter: Das ist schwer zu beschreiben. Aber wenn wir uns zum Beispiel zum Abendessen um 18 Uhr verabreden, bin ich meistens schon zehn Minuten früher da. Dann schreibe ich meinen Freunden: "Hey, wo seid ihr?" Und sie antworten: "Oh Gott, du bist schon wieder so deutsch." Organisation und Struktur, das sind die deutschen Dinge, die ich in mir habe. Russisch bin ich, was das Familienleben betrifft. Früher bin ich mit meiner Familie im Sommer immer zu meiner Oma nach Kirgisistan gefahren. Sie hat in einem Hochhaus gelebt, draußen vor der Haustüre sind alle Familien zusammengesessen. Das hat sich angefühlt, als ob alle eine einzige Familie wären. Man hat auch alles geteilt, zum Beispiel wenn jemand gerade frisches Obst vom Markt gehabt hat.
ballesterer: Ihr erstes Länderspiel für Russland haben Sie im Juni 2016 absolviert. Wie sind Sie im Team aufgenommen worden?
Neustädter: Am Anfang war es ein bisschen schwierig. Ich habe niemanden gekannt, nie zuvor in Russland gespielt. Der erste Trainingslehrgang war direkt vor der EM. Anfangs habe ich das Gefühl gehabt, dass sie mich vielleicht nicht ganz anerkennen, obwohl ich ja die Sprache spreche und einer von ihnen bin. Das hat sich dann bei den weiteren Zusammenkünften gelegt. Das ist auch normal, solche Dinge brauchen Zeit. Gerade im Nationalteam, denn dort sieht man sich ja immer nur kurz.
ballesterer: Neben Ihnen ist mit Konstantin Rausch seit August 2017 ein weiterer Deutschrusse im Team. Ist er eine wichtige Bezugsperson für Sie?
Neustädter: Als er zum Team gestoßen ist, hat er gesagt, dass er froh ist, dass ich auch da bin. Er hat zuvor auch nie in der russischen Liga gespielt. Aber er hat sich sehr gut integriert. Wenn wir beim Team sind, verbringen wir die meiste Zeit zusammen.
ballesterer: Sie haben zweimal für die deutsche Nationalmannschaft gespielt. Inwiefern unterscheiden sich die beiden Teams?
Neustädter: Deutschland ist das beste Team der Welt, aber sonst gibt es nicht so große Unterschiede. Es sind überall Profis. Die deutschen Spieler sind schon auf Topniveau, in Russland findet eine Entwicklung statt. Es wird viel für die jungen Spieler gemacht, es entstehen Akademien und die Ausbildung wird viel besser. Es hat ein Wandel stattgefunden, Russland muss diesen Weg weitergehen.
ballesterer: Im russischen Team spielen nur zwei Legionäre. Warum gibt es so wenige Spieler außerhalb Russlands?
Neustädter: Die Umstellung auf eine neue Kultur und Sprache ist schon schwierig. Vielleicht wagt deswegen kaum jemand den Schritt. Ich weiß, dass ein paar Jungs nach Europa schauen. Viele fragen mich, wie es in Deutschland so ist. Es gibt Spieler in Russland mit sehr viel Potenzial. Ich sage ihnen, dass sie ihre Chance nutzen sollen. Ich bin ja auch aus Deutschland in die Türkei gegangen, weil ich etwas Neues sehen wollte.
ballesterer: Sie sind erst im März wieder zu einem Teameinsatz gekommen, davor haben Sie ein Jahr nicht gespielt. Wie schätzen Sie Ihre WM-Chancen ein?
Neustädter: Als der Confed Cup anstand, hatte ich bei Fenerbahce nicht viel Spielzeit. Das ist jetzt anders. Seitdem bin ich immer im Kader und froh, dass ich jetzt auch wieder spielen durfte. Es ist nicht so einfach, weil wir noch nicht so oft zusammengespielt haben. Die Abläufe müssen erst verinnerlicht werden. Deswegen ist die Vorbereitung so wichtig. Im Trainingslager müssen wir Automatismen einüben, wir müssen alle die gleiche Idee von unserem Spiel haben.
ballesterer: Teamchef Stanislaw Tschertschessow hat im ballesterer-Interview davon gesprochen, dass er ein Trainer der alten Schule sei. Wie kommen Sie mit ihm zurecht?
Neustädter: Ganz gut. Er ist ein Mix aus Altem und Neuem, das macht ihn aus. Bei der Arbeit ist er total fokussiert, er will das Bestmögliche aus seinen Spielern herausholen und glaubt total an uns. Er kann dann auch einmal laut werden. Er ist aber auch ein sehr lustiger Mensch, der immer einen Witz parat hat und uns immer wieder zum Lachen bringt.
ballesterer: Wie lautet Ihr Ziel für die WM?
Neustädter: Wir wollen die Gruppenphase überstehen, danach kann man nur von Spiel zu Spiel denken. Bei so einem Turnier ist jedes Spiel ein Finale. Wir müssen die Stimmung und die Euphorie der Menschen mitnehmen. Es muss ein Vorteil sein, dass wir die WM zu Hause haben.
ballesterer: Ist die Situation nicht absurd? Einerseits herrscht Druck, andererseits traut dem Team kaum jemand etwas zu.
Neustädter: Ich verspüre gar keinen Druck, ich habe einfach nur Vorfreude in mir. Es stimmt, dass uns viele nicht auf der Rechnung haben. Aber beim Confed Cup hat man gesehen, wozu das Team in der Lage ist. Gegen Portugal und Mexiko haben wir nur knapp verloren. Kleinigkeiten werden entscheidend sein.
ballesterer: Wie haben Sie das russische Publikum im Stadion erlebt?
Neustädter: Sehr euphorisch. Die Fans stehen immer hinter uns, auch nach Niederlagen. Meine Teamkollegen haben mir erzählt, dass beim Confed Cup eine Riesenstimmung gewesen ist. Die Fans haben anerkannt, dass die Spieler alles gegeben haben. Wir bekommen volle Unterstützung.
ballesterer: Sie haben sich als einer von wenigen Fußballern klar gegen Homophobie geäußert. Was hat Sie dazu bewogen?
Neustädter: Als ich einmal auf Instagram ein Bild gepostet habe, hat jemand, frei übersetzt, "Schwuchtel" daruntergeschrieben. Da hat es mir gereicht. Es ist leider immer noch ein Schimpfwort, das geht einfach nicht. Wir leben in einer Welt, in der jeder seine Meinung frei äußern darf und alle gleichberechtigt sind. Man kann Kritik äußern, man kann auch beleidigen, das interessiert mich nicht. Aber so kann es einfach nicht weitergehen. Ich wollte damit ein Zeichen setzen, auch wenn man Diskriminierung nie ganz verhindern können wird.
ballesterer: Gleichzeitig gibt es in Russland ein großes Problem mit Homophobie und Rassismus, auch in den Stadien. Wie sehen Sie das?
Neustädter: Die Berichterstattung über Russland ist viel zu negativ. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was geschrieben wird, und dem, was passiert. Ich glaube nicht, dass es bei der WM rassistische oder homophobe Vorfälle geben wird. Die Russen freuen sich auf Menschen verschiedener Kulturen. Jeder, der nach Russland reisen möchte, soll es tun, um sich selbst ein Bild zu machen.
ballesterer: Fußballer äußern sich selten zu gesellschaftlichen Themen. Stört Sie das?
Neustädter: Nein. Ich kann die Spieler verstehen, die sagen: "Kein Kommentar." Wenn man Beschimpfungen am eigenen Leib erfahren hat, ist das etwas anderes. Dann denkt man sich vielleicht auch, dass man irgendwann ein Zeichen setzen muss. Wir sind nicht dafür verantwortlich, etwas zu ändern, aber wir können auf Dinge aufmerksam machen.
ballesterer: Wie nehmen Sie das Russland-Bild in Westeuropa wahr?
Neustädter: Es wird viel dramatisiert. Zweifel hat es vor großen Turnieren immer gegeben, das war in Deutschland, Südafrika und Brasilien nicht anders. Das gehört anscheinend dazu. Aber im Endeffekt sind alle Turniere reibungslos verlaufen, so wird das auch diesmal sein.
ballesterer: Und hinsichtlich des Landes allgemein?
Neustädter: Es wird zu viel Negatives nach außen transportiert. Die Menschen in Russland sind sehr lebensfroh. Viele denken, sie wären kühl und reden nicht mit einem. Klar, es gibt Sprachbarrieren, aber die Leute sind nett und hilfsbereit. Die WM wird ein großer Erfolg werden. Die Fans werden sehen, dass Russland ein tolles Land ist. (Benjamin Schacherl, 23.5.2018)