Der Lichtflash kommt unvermutet. Nach 57 Kilometern Dunkelheit im Gotthard-Basistunnel haben sich die Augen an das künstliche Licht im Zugabteil gewöhnt. Plötzlich ist Süden. Plötzlich ist Sommer. Plötzlich ist Sonne und alles anders. Die kleine Epiphanie, die einen kurz vor Bellinzona im schweizerischen Tessin erfasst, muss man erlebt haben, um zu verstehen, warum es die Erkenntnishungrigen immer schon in die Gegend rund um Ascona gezogen hat. Sie wollten Licht. Sie wollten Utopien, und sie wollten ein anderes Leben. Wie ein Magnet zog die Gegend am Lago Maggiore ab 1900 Stadtflüchtige, Vegetarier, Theosophen, Anarchisten und Spinner an. Später kamen Schriftsteller, Maler, Tänzer, Dadaisten und Emigranten aus der Zeit der beiden Weltkriege hierher.

Zentrum der Aussteiger aller Länder, die sich hier vereinigten, war der Monte Verità, ein Hügel oberhalb von Ascona.
Foto: Monte Verità

Zentrum der Aussteiger aller Länder, die sich hier vereinigten, war der Monte Verità, ein Hügel oberhalb von Ascona, auf dem sich anfangs "Naturmenschen" in Reformkleidern ansiedelten, um nackt in der Sonne zu tanzen, später dann auch verarmte Aristokraten, verfolgte (oder erfolglose) Künstler, Bohemiens, Psychoanalytiker, Frauenrechtlerinnen und all jene, die ihre Ideen in Nordeuropa nicht umsetzen konnten und sich in den südlichen Gefilden in einfachen "Licht-Luft-Hütten" ihren alternativen Lebensvorstellungen widmen wollten.

Vom Bahnhof in Locarno gelangt man mit einem Bus über eine gepflasterte, schmale Straße zu dem legendenumwobenen Hügel. Es ist ein Park mit exotischer Vegetation, Palmen wachsen neben Platanen, Eichen neben Edelkastanien. An den steinernen Stufen flitzen Eidechsen entlang, eine Teeplantage wuchert rund um den kleinen Pavillon, der für Zeremonien genutzt wird. Über allem thront ein Hotel aus der Bauhauszeit, auf dessen Terrasse man steht und weit über den Lago Maggiore sehen kann.

Ja, hier ist ein besonderer Ort. Aber es ist nicht das Zarathustragefühl, das sich in Sils Maria einstellt, wenn man über den Silvaplanersee blickt und Nietzsches ewige Wiederkunft heraufdämmern zu sehen glaubt. Hier, auf dem "Berg der Wahrheit", ging es rund zwanzig Jahre später um andere Erkenntnisse. Erklärungen für dieses "Bermudadreieck des Geistes" suchte schon Harald Szeemann: Im Katalog zu seiner legendären Ausstellung Monte Verità. Berg der Wahrheit im Jahr 1978 (die nach Zürich auch in Wien zu sehen war) ist von der sogenannten "magnetischen Anomalie im Raum Ascona" die Rede, einer besonderen geologischen Beschaffenheit des Untergrundes. Vielleicht war sie es, die schon auf den russischen Anarchisten Michail Bakunin wirkte, der sich 1869 nach Locarno flüchtete und dort seine Utopie von der herrschaftslosen Gesellschaft entwickelte.

Ganz sicher aber hat dieser seltsame Boden die Gründer des Monte Verità hierher gelockt: die Pianistin Ida Hofmann und ihre Schwester Jenny, den belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven, Lotte Hattemer und die Brüder Karl und Gusto Gräser. Ida Hofmann, Tochter eines Bauingenieurs aus Sachsen, hatte in Wien Musik studiert, wurde in Montenegro Musiklehrerin und traf 1899 in einer Naturheilkundeanstalt im heutigen Slowenien auf den 25-jährigen Oedenkoven, der gerade einer schweren Krankheit entronnen war.

Er war von der ungesunden Lebensform in den Städten und dem Leben im Übermaß angewidert und bekehrte Ida zum Vegetarismus. Gemeinsam beschlossen sie, eine eigene Heilanstalt zu gründen, neben dem "Licht-Luft-Konzept" sollte es um die Befreiung der Frau vom Mann gehen, die Befreiung von einengender Kleidung und um freie Liebe, ohne staatliche oder kirchliche Beglaubigung. Ihre Idee war nicht revolutionär, zu dem Zeitpunkt gab es schon vegetarische Initiativen, Licht- und Luftkuren und allerlei Reformkonzepte. Aber sie waren jung und verrückt genug, es in Form einer freundschaftlichen Kooperative zu versuchen – und sie hatten die Mittel dazu.

Auf dem Monte Verità, dem Berg der Wahrheit, gab kein Guru den Ton an, sondern ein Haufen verrückter Individualisten.

Einen Mitstreiter fanden sie in Karl Gräser, der, aus Siebenbürgen stammend, als Oberleutnant der österreichischen Armee einen Weg suchte, den verhassten Soldatenstand aufzugeben, und schon in seiner Garnison einen Club "Ohne Zwang" gegründet hatte. Seine Abneigung gegen den Kapitalismus ging so weit, dass er sein Erbe verschenkt hatte und später auf dem Monte Verità jede Berührung mit Geld vermied. Dessen Bruder Gustav Arthur, genannt "Gusto", muss man sich als hageren, Sandalen tragenden Rübezahl vorstellen. Bis an sein Lebensende (später, in München) sollte er nichts anderes als Tunika und Kniebundhose tragen, Kinder glaubten, als sie den stets mit einem Hirtenstab wandernden Gusto sahen, der Heiland erscheine ihnen.

Und schließlich die schöne und exzentrische Bürgermeistertochter aus Berlin, Lotte Hattemer, die sich mit ihrer Familie verkracht hatte und ebenfalls zu der Gruppe stieß. Als die fünf Aussteiger von München aus aufbrachen, zu Fuß wohlgemerkt, war ihnen utopisch zumute. In wehender Kleidung, barfuß oder in Sandalen, die Frauen mit offenem Haar sorgten sie spätestens in Italien für Irritationen. Das hielt sie aber nicht auf, und sie entschlossen sich nach einigem Suchen in Ascona dazu, ein Grundstück zu kaufen. Auf dem karstigen Hügel, der "collina", sollte das Sanatorium entstehen, Obstbäume sollten gepflanzt, Gemüsegärten angelegt werden.

Was mit so viel Elan begonnen hatte, wurde recht bald zu einem zähen Unterfangen. Es stellte sich nämlich heraus, dass Ida Hofmann und Henri Oedenkoven durch und durch unternehmerisch dachten, während die Gräser-Brüder all ihre Energie in das Verweigern lenkten. Gusto wandelte lieber als Prophet der Naturverklärung und des Pazifismus umher und verschenkte seine Traktate, Karl schwebte eine Kommune vor, er war ja schon zuvor gegen alles Kommerzielle gewesen. Grundsatzdiskussionen über den Bau einer Wasserleitung, das Einführen von Elektrizität oder den Einsatz von Maschinen entzweiten die Mitglieder der "vegetabilen Kompagnie" und zersprengten sie schließlich. Die Gräser-Brüder und Idas Schwester Jenny verließen das gemeinsame Unternehmen und lebten woanders auf dem Berg fortan ihr Naturmenschentum.

Wie das in der Praxis aussah, kann man in Harald Szeemanns jetzt wieder zugänglicher Ausstellung herrlich beobachten: Langhaarige, nackte Männer mit Bart und Spaten, die sich mit dem Spaten durch die Erde ackern. Oder Gusto Gräsers DIY-Recycling-Möbel, etwa Stühle, die ausschließlich aus Wurzeln und Zweigen gebastelt waren.

Auch reformatorisch, aber deutlich gepflegter ging es in der Naturheilanstalt mit ihren "Licht-Luft-Hütten" zu. Dort propagierten Hofmann und Oedenkoven einen streng "vegetabilischen" Ernährungsstil. Auch Kaffee, Alkohol und Tabak waren tabu. Vorübergehend wurde sogar mit reiner Obsternährung experimentiert, aber nicht einmal die Propheten selbst vertrugen sie, ganz zu schweigen von den Kurgästen, die heimlich nach Ascona hinabstiegen, um sich mit der herrlichen regionalen Küche zu trösten.

Ida Hofmann fuhr damals aus heutiger Sicht ein hochaktuelles Programm: Ihren feministischen Appell "Bleibet nicht Puppen, sondern werdet Menschen!" verband sie mit einem Ratgeber für ganzheitliches, naturnahes Leben, sie propagierte den Kampf gegen den Impfzwang, thematisierte das Problem gemeinsamer Teilung der Arbeit zwischen Mann und Frau. Ihr Lebens- und Heilungsprogramm, das auch Tanz und künstlerisches Schaffen miteinschloss, nahm viel von Rudolf Steiners Pädagogik vorweg.

Lebens- und Heilungsprogramm

Vieles, was spätere Kommunen der 1970er-Jahre ausmachte, war auf dem Monte Verità schon State of the Art: Ernährung als religiöses Programm, Körperkult, naturnahes Wohnen und der Versuch, dem industriellen Leben zu entkommen. Mit dem großen Unterschied, dass auf dem Monte Verità nicht ein patriarchaler Guru den Ton angab, sondern ein Haufen verrückter Individualisten versuchte, selbstbestimmt zu leben (was natürlich scheiterte).

Viele kamen im Laufe der Jahre nach Ascona. Auffällig war die Achse München-Berlin-Zürich, aber der künstlerische Radius reichte weiter. So eröffnete Mary Wigman, die 1913 in Rudolf von Labans Schule für Kunst auf dem Monte Verità den modernen Ausdruckstanz mitentwickelte, später eine Schule in Dresden. Auf der politischen Landkarte war der Ort ein Treffpunkt anarchistischer Kräfte. Der aus Graz stammende Psychoanalytiker und Anarchist Otto Gross kam auf Drogenentzug (erfolglos) hierher und traf auf den Kommunisten Erich Mühsam und die Gräfin Reventlow, die, bankrott, der Schwabinger Bohème entflohen war.

Hermann Hesse reiste im Anzug an und saß bald nackt in der Sonne. Seine Vorstellung von einer Gegenwelt zu den herrschenden Zuständen in Deutschland und Europa führte zu einer Freundschaft mit dem Dadaisten Hugo Ball und dessen Frau Emmy Hennings. Wie ein Archäologe, schrieb Szeemann im Katalog zur Ausstellung, habe er all die Lebensläufe und Verstrickungen der Menschen ausgegraben, die auf dem Monte Verità ihre Utopie in die Realität hatten umsetzen wollen. (Clarissa Stadler, 26.5.2018)