Tadellos gelegte Dauerwelle, silbern umrandete Brille, Lippenstift: Emerentia Hogema war eine gepflegte ältere Dame mit vielen sozialen Kontakten. Die 69-Jährige lebte allein in ihrer Wohnung an der Jacob van Weesenbekestraat im Westen von Amsterdam. Es war der 30. September 1992, ein Sonntag, als eine Freundin sie dort ermordet aufgefunden hat.

Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil sie Emerentia nicht mehr telefonisch hatte erreichen können. Am Tag vor ihrem Tod hatte die alte Dame noch Besuch von einem Unbekannten bekommen, der ihr ein Buch mit dem Titel De Verrader ("Der Verräter") brachte. Das Buch ist verschwunden, und auch von dem unbekannten Besucher fehlt bis heute jede Spur.

Der Mord an Emerentia Hogema gehört zu den mysteriösesten Mordfällen der niederländischen Kriminalgeschichte. Er ist eines von rund 1500 ungelösten Gewaltverbrechen – ein sogenannter Cold Case. "Aber das", hofft Jeroen Hammer, Cold-Case-Spezialist bei der niederländischen Polizei, "könnte sich bald ändern."

Tausende Kalender für 25 Haftanstalten

Der engagierte Kriminalist hat dafür gesorgt, dass in den 25 Gefängnissen des Landes spezielle Cold-Case-Kalender verteilt werden, auf denen jede Woche neue ungelöste Kriminalfälle samt Bildern der Opfer vorgestellt werden. Das Foto von Hogema prangt auf Kalenderwochenblatt 39.

Der Kalender soll hinter Gittern für Gesprächsstoff sorgen – und für vielleicht wichtige neue Hinweise. Er erscheint nicht nur auf Niederländisch, sondern auch auf Englisch, Arabisch und Russisch. Auflage: 48.000 Exemplare plus 800 Extrakalender für die Büros der Bewährungshelfer.

Denn, so ergab eine Untersuchung der niederländischen Polizei: Täter halten nie den Mund, sie haben den Drang, über ihr Verbrechen zu reden – entweder um damit zu prahlen und anzugeben, oder weil sie von Gewissensbissen geplagt werden. "Durchschnittlich sprechen sie mit zwei oder drei Menschen", erklärt Jeroen Hammer. "Es gibt also bei den Taten Hunderte von schweigenden Mitwissern."

US-Kartenspiel als Vorbild

Vorbild ist ein Kartenspiel in den USA: Dort spielen Häftlinge mit Karten, auf denen Opfer von ungelösten Verbrechen samt Informationen zu den Taten abgebildet sind. Aber diese Idee konnte sich hinter den Deichen nicht durchsetzen: Erstens wollte man nicht, dass mit Mordopfern Karten gespielt wird, zweitens sei die Gefängniskultur eine andere: "In Amerika spielen die Häftlinge sehr oft Karten, in den Niederlanden nicht."

Zunächst gab es Befürchtungen: Kann man das den Angehörigen zumuten? Führt der Kalender nicht zu Unruhen im Gefängnis? "Petzer" oder "Verklikker", wie sie in den Niederlanden heißen, sind schließlich auch hinter Gefängnismauern alles andere als beliebt.

Aber viele Familien wären froh, wenn sie nach Jahrzehnten der Ungewissheit endlich Antworten auf all die offenen, quälenden Fragen bekämen. Und eine Umfrage unter Häftlingen ergab, dass zwei Drittel den Kalender für eine gute Sache halten. Sie können ihre Tipps auch anonym geben, obendrein winkt ihnen eine Belohnung von bis zu 20.000 Euro, wenn es zu einer Strafverfolgung kommt.

32 brauchbare Hinweise bei erstem Versuch

Der Erfolg spricht für sich: "Unsere kühnsten Erwartungen wurden übertroffen", so Cold-Case-Spezialist Hammer. Im letzten Jahr, als der Kalender erstmals versuchsweise verteilt wurde, hat die Polizei aus den Justizvollzugsanstalten 78 Tipps bekommen, davon waren 32 so brauchbar, dass in sieben Cold Cases die Ermittlungen wiederaufgenommen wurden.

Darunter der Mord an Hans Schonewille, einem 47 Jahre alten Familienvater, der im Juni 1999 erschossen auf einem Parkplatz aufgefunden wurde, sein Auto stand 22 Kilometer entfernt. "Seit mehr als 18 Jahren fragen wir uns, wer sein Mörder ist – er könnte ja morgens beim Bäcker neben dir stehen", so Schonewilles Witwe Kitty. Nun schöpft sie neue Hoffnung: "Vielleicht erfahren meine Kinder und ich und auch Hans endlich Gerechtigkeit!"

Kalender und Strafverfolgung sind in den Niederlanden eine beliebte Kombination: Im Dezember 2016 veröffentlichte die in Den Haag beheimatete EU-Polizeikoordinierungsstelle Europol einen Onlineadventkalender mit 23 der meistgesuchten Verbrecher Europas. Drei von ihnen konnten tatsächlich festgenommen werden. (Kerstin Schweighöfer aus Amsterdam, 28.5.2018)