Je länger die verworrene politische Situation in Italien andauert, je größer die Diskrepanz zwischen dem wirtschaftlich Notwendigen und dem politisch Machbaren wird, je lauter die Mahnungen und Belehrungen aus Berlin und Brüssel tönen, desto verlockender scheint laut Umfragen für die Mehrheit der Italiener der Rückzug in eine Stimmung der nationalen Abschottung zu sein. Die Folgen der Euro-Einführung, verschärft durch die Auswirkungen des Flüchtlingsproblems (700.000 Migranten in den letzten vier Jahren), verstärkten den Eindruck einer vor allem durch den Exportweltmeister Deutschland geprägten Fremdherrschaft. Die Populisten, als selbsternannte authentische Sprecher des wahren Volkes, nützen das tiefverwurzelte Gefühl meisterhaft aus, von den "Reichen" im Norden, in erster Linie von dem deutschen Großkapital, ausgeplündert und von den "Eurokraten" in Brüssel erniedrigt worden zu sein.

Das vorhandene Konfliktpotenzial in Italien könnte aus mehreren Gründen eine existenzielle Bedrohung der Währungsunion und darüber hinaus der gesamten EU bedeuten. Die gespaltene Union befindet sich seit dem Brexit und dem West-Ost-Konflikt in der Flüchtlingsfrage und angesichts der unberechenbaren Folgen der "America First"-Politik der Trump-Administration wirtschafts- und sicherheitspolitisch in einer viel schwächeren Position als am Anfang der Eurokrise. Darüber hinaus kann die Größenordnung der Italienkrise mit dem Fall Griechenland keineswegs verglichen werden. Die Vorschläge Macrons für eine großangelegte Revitalisierung der EU sind zu langfristig, und angesichts der sozialen Gärung in Frankreich selbst ist die Stabilität seiner Ära fraglich.

Zugleich sind die Chancen infolge auch des Vormarsches der nationalistischen Populisten in Süd- und Osteuropa gering, dass das Vertrauen der Bevölkerung der EU-Staaten zurückgewonnen werden kann. Das Europaprojekt ist in den Augen vieler Menschen, nicht nur in Italien, zum Synonym für Heuchelei geworden. In seiner brillanten Analyse ("Europa in der Falle") hat der deutsche Politikwissenschafter Klaus Offe bereits vor zwei Jahren festgestellt, es sei ein gewaltiger Fehler gewesen, den Euro ohne Einbettung in eine politische Union einzuführen. Er warnte aber, "es wäre wegen der unkalkulierbaren Risiken ein noch größerer Fehler, diesen Fehler einfach rückgängig zu machen". Ein Ausstieg aus dem Euro und das Scheitern Europas könnten die Dynamik der nationalistischen Tendenzen "ohne zivilisatorische Selbstkontrolle" der Mitgliedstaaten freisetzen und zum gefährlichen nationalistischen "Naturzustand" führen, in dem alle nur verlieren würden.

Diesen verhängnisvollen Weg wollen die durch das Votum der Mehrheit an die Macht gelangten populistischen Hasardeure einschlagen. Zur Einschätzung der sich anbahnenden Europakrise kommt noch etwas: Lega und Fünf-Sterne-Bewegung sehen in Putins Russland einen sympathischen Partner ihrer künftigen Regierung. Im Zeichen eines außenpolitischen Kurswechsels wollen sie die internationalen Sanktionen gegen Russland sofort aufheben. Die Folgen für die EU und Nato wären unberechenbar. (Paul Lendvai, 28.5.2018)