Der Marsch der "schweigenden Mehrheit" vom 30. Mai 1968 auf den Pariser Champs-Élysées. Doch de Gaulles Erfolg war nur von kurzer Dauer.

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Es war – wie sich herausstellte – ein brillanter Schachzug. In Paris flogen im Mai 1968 die Pflastersteine, und das revolutionäre Fieber, das Frankreich wieder einmal erfasst hatte, griff von der besetzten Sorbonne-Universität auf die Fabriken über. Millionen Menschen streikten unter der Führung der Renault-Arbeiter und lähmten die gesamte Wirtschaft. Die Fünfte Französische Republik wankte in ihren Grundfesten, die Staatsgewalt war herausgefordert.

Und was tat ihr Gründer und Präsident auf der Höhe der Krise? Charles de Gaulle setzte sich am 29. Mai 1968 mit unbekanntem Ziel ins Ausland ab. Er informierte noch telefonisch seinen Premierminister Georges Pompidou, dass er "etwas Abstand gewinnen" wolle, setzte sich in einen Armeehelikopter und flog auf und davon, eine Nation am Rande des Nervenzusammenbruchs zurücklassend.

Später erst wurde bekannt, was der 77-jährige Weltkriegsheld unternommen hatte: Er besuchte im deutschen Baden-Baden General Jacques Massu, den Befehlshaber der französischen Besatzungstruppen im Nachkriegsdeutschland, um sich der Rückendeckung der Armee zu versichern.

Kalkül mit der Angst

Am folgenden Morgen, dem 30. Mai, erschien de Gaulle in Paris wie gewohnt zur Regierungssitzung. Doch Frankreich war nicht mehr das selbe wie am Vortag: Über Nacht hatte es die verunsicherte und kurzfristig auch führungslose Nation mit der Angst zu tun gekriegt.

Genau diese Absicht hatte de Gaulle mit seiner Helikopterreise nach unbekannt verfolgt: Von den Mai-Krawallen durchgeschüttelt, sollte Frankreich "in Panik ausbrechen", wie Le Monde-Autor Yves Bordenave heute meint. Noch am Nachmittag des 30. Mai wandte sich de Gaulle über das Radio an seine Landsleute. Nein, er werde nicht zurücktreten, erklärte er dramatisch. Und nein, sein Regierungschef werde auch nicht abdanken. Dafür löse der Staatschef die Nationalversammlung (das Parlament) auf, um Neuwahlen anzusetzen. "Nein, die Republik wird nicht abdanken!", rief er aus. "Das Volk wird sich wieder erfangen!"

Am gleichen Abend gingen in Paris hunderttausende normale Bürger auf die Straße, um gegen das "chienlit" (Chaos) zu protestieren. Ein Menschenmeer wälzte sich wortlos über die Champs-Élysées.

Die Wende war da, die MaiBewegung erhielt von der "schweigenden Mehrheit", wie sie de Gaulle nannte, den Gnadenstoß. Bei den Parlamentswahlen Ende Juni gewann die neu gegründete gaullistische Union zur Verteidigung der Republik (UDR) die absolute Mehrheit von 293 der 487 Sitze. De Gaulles Autorität hatte triumphiert, der Mai '68 war erledigt. So schien es zumindest fürs Erste.

Doch nach seinem Geniestreich beging de Gaulle den Fehler, Pompidou zu entlassen. Der ruhige, maßvolle Premierminister war den Franzosen nicht erst in den Mai-Unruhen positiv aufgefallen. De Gaulle dagegen versteifte sich in einer selbstgerechten Devise: "Ich oder das Chaos!"

Als er bald darauf eine Senats- und Regionalrevision vorlegte, um seinen gesellschaftlichen Reformwillen zu bekräftigen, verknüpfte er damit in seinem Eigenstolz sein eigenes Schicksal: Jetzt, wo die Gefahr eines Umstur- zes gebannt war und die Ideen der 68er bis in die bürgerlichen Mittelklassen vordrangen, galt de Gaulle nur noch als der "alte General" .

Im April 1969 lehn- ten die Franzosen die Senatsvorlage mit 52,6 Prozent ab. De Gaulle zog die erwartete Konsequenz und trat mit sofortiger Wirkung zurück. Der Mai '68 hatte de Gaulle doch in die Knie gezwungen.

Langsam setzten sich die progressiven Kräfte in der französischen Politik durch. 1969 wählten die Franzosen Pompidou zum Staatspräsidenten, 1974 den Liberalen Valéry Giscard d'Estaing und 1981 erstmals einen Sozialisten: François Mitterrand, der während der Mai-Unruhen den Rücktritt de Gaulles gefordert hatte.

Mitterrands Slogan "changer la vie" (das Leben verändern) nahm die Studentenforderungen von einst auf. Und nicht nur sie. Mehr oder weniger direkte Folgen von 1968 waren die Zulassung des Schwangerschaftsabbruchs (Gesetz von Ministerin Simone Veil 1975), ja die gesamte Bewegung zur "Frauenbefreiung" (MLF). Vor 1968 benützten nur 4,8 Prozent der Frauen die Pille; im Jahr 2000 waren es 43,6 Prozent. Das kinderreichste Alter werdender Mütter stieg von 22 Jahren (1968) auf 29 Jahre (2018).

Dazu gesellte sich die Demokratisierung der Bildung: 1968 absolvierten nur 19 Prozent der Schüler das "Bac" ("Baccalauréat", Matura); heute sind es 80 Prozent. Die Zahl der Studenten nahm von 750.000 auf 2,6 Millionen zu.

Zahlreiche Errungenschaften

Eine der zahllosen indirekten Errungenschaften des Mai '68 war die Gründung der Organisation Ärzte ohne Grenzen in Paris. In der Arbeitswelt kam dazu die Erhöhung des Mindestlohns um ein Drittel oder die Arbeitszeitverkürzung, die noch 1999 in die 35-Stunden-Woche in Frankreich mündete.

De Gaulle erlebte das alles nicht mehr; er starb 1970. Und mit ihm die alte Zeit. (Stefan Brändle aus Paris, 29.5.2018)