Wien, 1945: ein trauriger Anblick. Es gibt viel Zerstörung in der Stadt. Im Bild der Prater und das Riesenrad. Dennoch erlebten vor allem die jungen Menschen das Kriegsende als Befreiung.

Foto: Der Standard

Hans Rauscher, den ich als einen der besten Publizisten Österreichs schätze, hat einen großartigen Artikel ("1968 – war da was?", erschienen im STANDARD) zu 1968 geschrieben. In einem Punkt allerdings muss ich ihm widersprechen. Er schreibt vom "muffigen, autoritären, provinziellen Österreich der Nachkriegsjahre". Das ist sehr einseitig.

Ein Gegenbeispiel: Das Forum Alpbach wurde schon im Sommer 1945 von Otto Molden gegründet, junge Österreicher und Österreicherinnen trafen dort auf Zelebritäten wie Karl Popper, Ernst Bloch, Erwin Schrödinger, Friedrich Hayek oder den erst später berühmt gewordenen Paul Feyerabend.

Die Besatzungsmächte brachten, neben allem Unangenehmen, eine Atmosphäre der Internationalität in Österreichs erstes Nachkriegsjahrzehnt, die noch näher zu erforschen wäre. Franzosen, Engländer, Amerikaner boten jungen Österreichern Auslandsstipendien an. Schon 1947 gab es einen Maturantenaustausch mit Frankreich, der mir meinen ersten Paris-Aufenthalt bescherte. 1949 bekam ich ein Stipendium an die englische Universität Birmingham. Die Amerikaner starteten ihr berühmtes Fulbright-Programm, und ab 1949/50 begannen zahlreiche junge Österreicher und Österreicherinnen, ein Jahr in Amerika zu studieren.

Amerikanischer Leseraum

Ich selbst verdanke meinem Engagement in der Hochschulsektion der Österreichischen Liga für die Vereinten Nationen Kontakte mit dem Politikwissenschafter Hans J. Morgenthau, die es mir 1951 ermöglichten, nur drei Wochen nach meinem letzten Rigorosum einen Job an der University of Chicago zu beginnen. In Wien war der amerikanische Leseraum in der Kärntner Straße immer randvoll gefüllt. Das französische Kulturinstitut in Innsbruck war ein intellektuelles Zentrum, französisch-österreichische Begegnungen wurden im Winter in St. Christoph am Arlberg, im Sommer am Achensee veranstaltet. Zu einer dieser Veranstaltungen kam André Gide angereist.

Die Wiener Theater-, Opern- und Konzertszene war erstklassig. Die Sowjets drangen sehr energisch auf die rascheste Aufnahme von Konzert, Oper und Theater, schon weniger als drei Wochen nach dem Kriegsende in Wien. Ich habe David Oistrach gehört, und ich habe etwas später Bruno Walter mit Beethovens Neunter erlebt. Die Theater brachten Stücke ausländischer Autoren, Giraudoux, Anouilh, John Priestley, Thornton Wilder, O'Neill, Lunatscharski. Es gab Gastspiele der Comédie française und des Théâtre Louis Jouvet im Burgtheater. Es gab großartige Inszenierungen von Gustav Manker im Volkstheater, 1963 etwa die Durchbrechung des Brecht-Boykotts mit der Inszenierung der "Mutter Courage". War das alles muffig, provinziell?

Staatssprache Deutsch

Aber natürlich gab es das auch: Als ich 1961 mein in Amerika erschienenes und preisgekröntes Buch über Benjamin Franklin, in englischer Sprache geschrieben, als Habilitationsschrift einreichte, wurde mir zunächst vom Dekan beschieden, dass dies nicht möglich sei, weil die Staatssprache der Republik Österreich die deutsche und die Habilitation ein Verwaltungsverfahren sei. Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden, indem ich eine dreißigseitige deutsche Inhaltsangabe meines Buches zu verfertigen hatte.

Und noch ein paar unorthodoxe Worte zur Universität nach 1945, in der, wie Eva Blimlinger ("Die Selbstzufriedenheit der 68er") geschrieben hat, "Totenruhe im wahrsten Sinne des Wortes" herrschte. In diesen Jahren lehrten zwei Mathematiker an der Universität Wien, die Weltruhm errangen: Johann Radon und Edmund Hlawka. Ich dissertierte bei einem aus England zurückgekehrten Emigranten, Heinrich Benedikt, der schon ab 1948 an der Universität lehrte. Mein erstes Proseminar 1947/48 hatte ich bei Erich Zöllner, einem überzeugten antinationalsozialistischen Wissenschafter. Mein Zweitgutachter bei der Dissertation, Hugo Hantsch, war ein Benediktinerpater, auch zeitweise KZ-Insasse, der zwei liberale junge Wissenschafter, darunter einen Protestanten, als Assistenten bestellte (Fritz Fellner und Günter Hamann).

Für jene jungen, antinationalsozialistisch eingestellten Menschen, die die Nazizeit bewusst erlebt und überlebt hatten, war die Nachkriegszeit alles andere als autoritär, sie war eben wirklich eine Zeit der wiedergewonnenen Freiheit. Und man denke auch an jene, die aus den Konzentrationslagern zurückkamen und am Aufbau der Zweiten Republik mitwirkten, nicht immer nur Figl, Hurdes oder Olah, nein, auch andere wie der Journalist Rudolf Kalmar, langjähriger Chefredakteur des "Neuen Österreich" und Autor des KZ-Berichts "Zeit ohne Gnade", oder der Sozialdemokrat Benedikt Kautsky, der ebenfalls ein KZ-Buch, "Teufel und Verdammte", verfasst hat. Oder, am bekanntesten: der Psychiater Viktor Frankl.

Nicht vergessen

Die "Zeit ohne Gnade" lag unmittelbar hinter jenen, die ich die "Generation von 45" genannt habe, wie etwa Kurt Schubert, Erika Weinzierl, die Brüder Otto und Fritz Molden, Hans Tuppy, Kurt Skalnik, Friedrich Heer. Diese Generation war nicht muffig oder provinziell, und sie sollte über jener von 1968 nicht vergessen werden. (Gerald Stourzh, 29.5.2018)