Heinz-Christian Strache macht sich Sorgen um die Lage in den osteuropäischen Nachbarländern. Es sei "nicht gut, das gesamte intellektuelle, gut ausgebildete Potenzial Osteuropas für Westeuropa abzuziehen", erklärte er jüngst in Wien. Und nannte ein anschauliches Beispiel, das konkret Österreich betrifft: den Umstand, dass zehntausende Pflegekräfte aus der Slowakei, Ungarn, Rumänien und anderen EU-Ländern hierzulande tätig sind. Sie nähmen Österreichern zudem die Arbeit weg.

Wie so oft, wenn Populisten sich eines EU-Themas annehmen und es vereinfachen, hat die Problematik einen wahren Kern. Es ist da ein Billiglohnsektor entstanden. Aber ohne die helfenden "Engel" aus Osteuropa würde die Betreuung alter Menschen in Österreich zusammenbrechen, weil gerade wenig begüterte Familien sich die Pflege ihrer Eltern sonst kaum leisten können. Vor der EU-Erweiterung lief das vielfach "schwarz".

Strache macht für diese Zustände "die EU" verantwortlich und das Prinzip der "Personenfreizügigkeit". Das ist beim Chef einer Partei, die im EU-Parlament in einer Fraktion mit der Lega und der Le-Pen-Partei sitzt, die "diese EU" offen zerstören will, wenig überraschend. Aber kurz vor dem Start von Österreichs EU-Vorsitz ist es doch erstaunlich, welches Fass mit politischem Sprengstoff der Vizekanzler ohne Not aufmacht – aus drei Gründen.

Erstens: Der freie Personenverkehr, das Recht aller EU-Bürger, sich in jedem Mitgliedsland niederzulassen, um dort zu arbeiten, zu studieren oder als Pensionist seinen Lebensabend zu genießen, ist nicht irgendeine EU-Regel. Das gehört seit 1993 zu den Fundamenten des freien Binnenmarktes. Die kleine exportstarke Industrienation Österreich hat davon besonders profitiert. Strache rüttelt also an der Union als solcher, am EU-Vertrag von Maastricht, an einer Freiheit, die vor allem die Osteuropäer ersehnten. Zynisch könnte man sagen, Strache solle das am besten gleich mit Viktor Orbán und anderen nationalistischen Ostpremiers diskutieren. Die werden ihm was husten.

Denn zweitens: Straches Behauptung, "die EU", deren Teil wir alle sind, wolle über Probleme mit der EU-Erweiterung ab 2004 nicht reden, ist schlicht falsch. Es gab eine Übergangsfrist bei der Personenfreizügigkeit, die Österreich anwendete. Jüngst wurde die EU-Entsenderichtlinie für Arbeitnehmer verschärft. Es ist daher völlig richtig, wie der EU-Abgeordnete Othmar Karas auf Strache reagierte: nicht mit Empörung, sondern mit sachlich begründetem Konter, mit Aufklärung.

Drittens: Dem Vizekanzler geht es gar nicht um differenzierte Kritik an EU-Politiken, er schlägt keine praktikablen Lösungen vor, die man mit den EU-Partnern erarbeiten könnte. Der FPÖ-Chef betont immer nur das Negative, um EU-Skeptiker anzusprechen. Das widerspricht allerdings dem von der Regierung proklamierten Vorsatz, "proeuropäisch" sein zu wollen. Womit wir bei der Rolle von Bundeskanzler Sebastian Kurz wären, der den Angriff Straches herunterspielt mit dem Verweis, dass dies nicht Teil des Regierungsprogramms sei. Das ist zu wenig.

Ein Regierungschef hat die Aufgabe, die große Linie des Landes über Papiere hinaus zu definieren und zu vertreten, zumal als baldiger EU-Ratspräsident. Kurz' Vorgänger wie Franz Vranitzky oder – bei aller Kritik – auch Wolfgang Schüssel konnten das. Der Kanzler muss also für Klarheit sorgen, dass seine "proeuropäische Regierung" nicht nur ein EU-Schmäh ist. (Thomas Mayer, 31.5.2018)