"Ich arbeite an realen Projekten, um reale Probleme dieser Welt zu lösen. Dazu brauche ich keinen Ziegelstein in meiner Hand. Haben Sie je einen Chefkoch gesehen, der selbst mit dem Kochlöffel im Topf herumrührt?" Yona Friedman (95) in seinem Wohn- und Arbeitszimmer in Paris.

Foto: Martin Bruno

Der Architekt und Stadtplaner Yona Friedman wird kommenden Dienstag mit dem Österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis ausgezeichnet. Wir haben den Erfinder der "Ville Spatiale" in seiner Pariser Wohnung besucht.

STANDARD: Ich habe noch nie so eine Wohnung gesehen. Wo befinden wir uns denn hier gerade?

Friedman: Da sind Sie nicht der Einzige. Ich habe so eine Wohnung auch noch nie gesehen. Wir stehen hier im Wohnzimmer. Zumindest steht das im Plan so drinnen, dass dieser Raum hier ein Wohnzimmer ist. Ich weiß bis heute nicht, was das sein soll. Wohnzimmer …

STANDARD: Wie würden Sie den Raum denn mit Ihren eigenen Worten beschreiben?

Friedman: Ich glaube nicht an Architektur und Design. Zumindest nicht in dem Sinn, wie die Begriffe heute verstanden werden. Mir ist das alles zu glatt, zu sauber, zu aufgeräumt. Ich brauche den Raum um mich herum als Work in Progress, als eine Werkstatt der freien Gedanken. Und manche dieser Gedanken sind schwebend und schwerelos, wie Sie sehen. Ist das nicht etwas Wunderbares?

STANDARD: Wie sieht denn so ein freier, schwebender Gedanke aus?

Friedman: Schauen Sie sich doch um! Alles hier! Es sind Raummodelle für Museen, Wohnhäuser und ganze Städte. Manche sagen, das seien Utopien, aber nein! Das sind alles reale Projekte. Manche davon werden realisiert, andere nicht. Erst im Dezember war ich in China, um dort ein Projekt zu realisieren, und zwar eine Ausstellungsarchitektur für ein Museum in Shenzhen. Das Konzept dafür habe ich hier entwickelt, hier in diesem Raum. Sehen Sie das Modell da drüben? Das ist es.

STANDARD: Sie meinen die Eierkartons mit den Klorollen?

Friedman: Jetzt seien Sie nicht so banal! Etwas mehr Fantasie!

STANDARD: Wie finden Sie sich in diesem Chaos zurecht?

Friedman: Mein Atelier auf der anderen Seite des Flurs sollten Sie sehen! Dort ist Chaos. Aber das hier, das ist kein Chaos. Hier hat alles seine Ordnung und ist ganz genau durchstrukturiert. Hier die Zeichnungen, da die Fotomontagen und dort die Modelle. In einem Kistchen liegen die Korken, dort die Lämpchen, und schauen Sie hier ... Erst unlängst hat mir jemand diese Plastikverschlüsse geschenkt. Sind das nicht wunderschöne Objekte? Ich denke, das könnte ein Hochhaus werden.

STANDARD: Woher kommt Ihre Sammelleidenschaft?

Friedman: Ich sammle nicht. Ich kann nur nichts wegschmeißen. Wer weiß, wozu ich das noch brauche! Es sind kleine räumliche Gegenstände, mit denen man große Räume im kleinen Maßstab vergegenständlichen kann.

STANDARD: Viele Leute sehen in Ihnen weniger einen Architekten als einen Künstler, Philosophen, Utopisten ...

Friedman: Nein, ich bin kein Utopist. Ich bin Realist durch und durch. Ich arbeite seit vielen Jahrzehnten an realen Projekten, die dazu beitragen sollen, reale Probleme dieser Welt zu lösen. Dazu brauche ich keinen Ziegelstein in meiner Hand. Oder haben Sie jemals einen Chefkoch gesehen, der selbst am Herd steht und mit dem Kochlöffel im Topf herumrührt?

STANDARD: 1958 haben Sie das Konzept einer räumlichen, dreidimensionalen Stadt entwickelt. In welchen Städten ist die Idee dieser "Ville Spatiale" denn zur Anwendung gekommen?

Friedman: In den Fünfziger- und Sechzigerjahren gab es viele verschiedene Ideen zur Neuerfindung der Stadt. Aber Sie müssen wissen: Le Corbusier, Archigram oder die japanischen Metabolisten hätten die historische Stadt am liebsten abgerissen und komplett neu bebaut. Das wollte ich nicht. Ich habe mit der "Ville Spatiale" eine Raumstadt entwickelt, die über der bestehenden Stadt hätte errichtet werden können. Schauen Sie sich doch nur mal um! Die Idee der neuen Stadt über der alten finden Sie seit damals schon auf der ganzen Welt realisiert.

STANDARD: Wo findet man Ihre "Ville Spatiale" heute?

Friedman: Der Begriff des Raums hat sich grundlegend verändert. Ich würde sagen, die "Ville Spatiale" ist heute die Cloud, die über der realen, analogen Stadt schwebt. Man arbeitet von zu Hause, man ist örtlich ungebunden, man muss weniger verkehren, und letztendlich brauchen wir heute keine Versammlungspunkte und irgendwann einmal auch kein Stadtzentrum mehr, denn unser Leben verlagert sich mehr und mehr in die Cloud, in die virtuelle Parallelstadt, die über der realen schwebt.

STANDARD: Das klingt jetzt aber nicht so toll.

Friedman: Eine Frage des Blickwinkels. In den heutigen Stadtzentren sind Sie mit Menschenmassen, zunehmendem Verkehr, steigenden Grundstückskosten, Infrastrukturproblemen, Security-Problemen und auch einem wachsenden Gewaltpotenzial konfrontiert. Wenn man in Zukunft nicht mehr in die Stadt hineinfahren müssen wird, wird ein Teil dieser Schwierigkeiten wegfallen. Ich will den heutigen Wandel nicht beklagen. Ich will mich auf das Positive darin konzentrieren. Machen wir das Beste daraus!

STANDARD: Wie hat sich diesbezüglich Paris verändert?

Friedman: Durch die wachsende Wolkenstadt über dem analogen Paris beobachte ich eine zunehmend größer werdende Kluft zwischen den alten und den jungen Generationen. Wir entwickeln uns gerade zu einer neuen, gänzlich digital kommunizierenden Spezies.

STANDARD: 1969 haben Sie vorgeschlagen, eine Maschine zu entwickeln, die selbstständig in der Lage ist, Wohnungsgrundrisse zu entwerfen. Diese Prognose jedenfalls hat sich bewahrheitet.

Friedman: Ja, das ist wohl so. Unglaublich, oder?

STANDARD: Kommenden Dienstag werden Sie in Wien mit dem Österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis ausgezeichnet. Wo sehen Sie die Parallelen zu Kieslers Arbeit?

Friedman: In der Unendlichkeit. Kiesler widmete sein Leben der Idee der unendlichen Räume und des Endless House. Ich habe mein Leben der unendlichen Stadt gewidmet.

STANDARD: Haben Sie schon eine Idee, was Sie mit den 55.000 Euro Preisgeld machen werden?

Friedman: Ich habe seit Jahrzehnten kein fixes Einkommen. Das Geld gibt mir die Möglichkeit, weiterzuarbeiten und mir bis an mein Lebensende keine finanziellen Sorgen mehr machen zu müssen.

STANDARD: Wünsche oder Pläne für die Zukunft?

Friedman: Am Dienstag werde ich 95. In meinem Alter besteht die Zukunft aus den kommenden 24 Stunden.

STANDARD: Was ist Ihr Wunsch für die kommenden 24 Stunden?

Friedman: Mein Wunsch ist, dass ich mir diesen Wunsch noch viele, viele Male weiterwünschen kann. (Wojciech Czaja, 3.6.2018)