Zeremonienmeister Gery Keszler ebnete den Weg für etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: dass jeder jeden lieben kann, den er liebt.

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"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren", lautet Artikel_1 der Menschenrechtscharta, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris unterzeichnet wurde. Gleich "ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung." So weit die Theorie.

45 Jahre später hatte ein gewisser Gery Keszler angesichts ansteigender Infektions- und Todesfälle infolge des HI-Virus, als Widerpart zur epidemisch grassierenden Homophobie und Intoleranz, als Gegenpol zur Stigmatisierung von Aidskranken, die Idee, eine Charity zugunsten der Aids-Hilfe zu veranstalten.

Mit jugendlichem Enthusiasmus, juveniler Naivität und unglaublichem Engagement, der Leichtigkeit des Seins, und last, but not least der Unterstützung des visionären Bürgermeisters Helmut Zilk, ging 1993 im Wiener Rathaus der erste Life Ball über die Bühne. Als Zeichen der Toleranz und Akzeptanz, des Pluralismus. Als Fest des Lebens, als Fest für das Leben.

Obwohl beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindend, erreichte der Ball sofort Kultstatus und trug so ganz nebenbei dem bisher als konservativ und traditionalistisch bekannten Wien den Nimbus der Modernität, der Weltoffenheit, der Akzeptanz und Toleranz für ausgegrenzte Minderheiten ein. Barock, gülden glänzend.

Hedonismus now!

Frei nach Ovid könnte man meinen, Gery Keszler hätte "das goldene Zeitalter" gesät. Legendär die Fashion-Shows von Mugler, Galliano, Gaultier mit zart-subtilen, extravagant-eleganten Elementen, geprägt von Ästhetik, Enthusiasmus, Fantasie und exhibitionistischen Provokationen. Unvergesslich Dagmar Kollers (un-)beabsichtigtes Nipple-Gate, die Performances der Kessler-"Drillinge" mit Keszler in der Mitte, von Cicciolina und Dita van Teese, das exzessiv-körpernahe Duett Jimmy Somervilles mit dem göttlichen Marc Almond.

Unvergesslich bleiben die von Spontaneität und Verve geprägten Shows, deren Pannen gleichgültig waren, aufgrund des ehrlichen Bemühens um die Sache selbst. Legendär auch Falcos letzter Live-Gig zwischen Dekonstruktion und Verweigerung.

Unvergessen Keszlers Pathos, seine liebenswürdige Aufregung, die authentische Rührung bei seinen nach Worten ringenden Danksagungen und Warnungen vor der Verbreitung des tödlichen Virus. Ihm war gelungen, Ignoranz und Intoleranz einen lebensbejahenden Kontrapunkt entgegenzusetzen.

Die Reaktionen waren dissonant. Sie reichten von öffentlicher Erregung und kollektiver erektiler Dysfunktion der prüden Doppelmoral eines hysterischen Landes bis hin zu internationalen Hymnen an die Offenheit Wiens.

Heuer jährt sich dieses epochale Ereignis zum 25. Mal. Vieles hat der Life Ball bewirkt. Vieles hat er verändert. Sowohl, was die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität, Andersartigkeit, von allem Nichtnormativem betrifft, als auch den Umgang mit der Krankheit selbst.

Etliche Forderungen wie etwa die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften sind – dem Verfassungsgerichtshof sei Dank – ab 2019 auch nominell Realität. Weite Teile der Bevölkerung sind mittlerweile zumindest nicht mehr offen homophob. Durch die Forschung ist die Krankheit – früher ein Todesurteil – behandelbar. In den kommenden Jahren könnte sie heilbar sein.

Wider die Stigmatisierung

Der Life Ball unterstützt seit 25 Jahren hunderte nationale und internationale Hilfsorganisationen im Kampf gegen das Virus. Hatte der erste Ball gerade eine Million Schilling eingespielt, lag der Rekord bei mehr als zwei Millionen Euro. Tausenden Menschen konnte bislang durch Keszlers Verein Life+ geholfen werden.

Zweifelsfrei und wohlverdient befindet sich Keszler durch seine einmalige, kraftvolle, kraftraubende, vielen Kraft spendende Initiative im zeitlosen Olymp der Innovatoren und Auguren gesellschaftlicher Metamorphosen. Sein Einsatz und seine Empathie sind bewundernswert. Einzigartig ist auch sein ebenso exzentrisches wie exzessives Fest des Lebens, der Toleranz, des Hedonismus, des friedvollen Nebeneinander und respektvollen Miteinander.

Besonders ist auch sein humanitäres Engagement gegen die Krankheit sowie gegen Stigmatisierung, Nihilismus, Saturiertheit, gegen gelangweilte Ignoranz und das Primat des ökonomischen Nutzens. Wien mutierte vom konservativen Ruhepol Europas zum Zentralgestirn eines modernen Universums, mit dem Ruf unantastbarer Aufgeschlossenheit. Ohne Zweifel ist Keszler Mastermind, Herz, Hirn und Seele des Life Ball.

So er sich nicht zurückgezogen auf seinem Bauerhof im Burgenland befindet, ist der 1963 in Mödling geborene, gelernte Feinmechaniker und spätere Starvisagist rund um den Erdball unterwegs, um Spendengelder zu lukrieren. Hochachtung gilt seinem Einsatz und seinem Umgang mit der Krankheit.

Maßlose Kommerzialisierung

Dennoch widerfuhr dem Life Ball, was vielen anderen passiert ist. Nachdem der von Ausschweifungen, Exhibitionismus und Lebensfreude geprägte Ball trotz Anfeindungen, Dämonisierungen und Skandalisierungen sich vom zarten Pflänzchen zum internationalen Hype auswuchs, wurde er auch von heimischen Skeptikern beachtet, dann kritisch beäugt, später umgarnt und schließlich zu Tode umarmt.

Promis und Politiker aller möglichen und unmöglichen Couleurs enterten den Red Carpet, kaperten die Bühne und sonnten sich in der gleißenden Sonne der Scheinwerfer. Der einzige Vorwurf, den man Keszler machen kann, ist der, dass er die Vereinnahmung der bigotten Society nicht – oder zu spät – erkannte und die Geister, die er rief, später nicht mehr loswurde. Schließlich buhlte er, trotz Provokationen, auch um Anerkennung. Jeder will geliebt werden.

Am Anfang hatte Gery Keszler Außenseitern, Underground und Subkultur eine Stimme gegeben und eine Bühne geboten. Der Zeremonienmeister fusionierte Deep House mit Opernarien, Elmayer mit BDSM, Sängerknaben mit Models in Agent-Provocateur-Playsuits. Genial.

Im Lauf der Jahre wurde das gemeine Partyvolk – zugunsten von Promis, VIPs und VIP-VIPs – zur einfachen Plebs degradiert – und auch räumlich in Seitentrakte verdrängt. Das Problem dabei: Durch die maßlose Kommerzialisierung ging die Authentizität des Balls verloren. Die Community, die den Ruhm der kosmopolitischen Begierden gelebt und generiert hatte, wurde unsanft domestiziert. Alle sind gleich, aber manche sind gleicher.

Nicht nur, dass die "Promis" immer unbekannter wurden – auch die Mottos der Bälle wurden immer klischeehafter. Verließ sich Keszler anfangs auf die Fantasie seines Ballpublikums, schränkte er diese durch immer plakativere Themen immer mehr ein. Nach Selbstinszenierungen barocker Egos verwandelte sich der Ball zu dem, von dem man sich unterscheiden wollte: zum biederen Mainstream-Event.

Psychologisch interessante Konvertierungen des Es, Ich oder des Über-Ich (nicht umsonst tanzt man in der Stadt Sigmund Freuds) wurden zur Nebensache. Das Ausleben eines anderen Ich, früher Hauptanliegen des Life Ball, wurde pervertiert.

Porn-Chic meets Gemeindebau

Durch Pappnasen, bunte Perücken und die Anbiederung an den Mainstream geriet das Spektakel zum Faschingsgschnas. Rühmliche Ausnahme: Ver Sacrum im Jahr 2015, mit zeitgenössischen Interpretationen Klimt’scher Lebenswelten – mit der grandiosen Conchita als Goldener Adele (mit Bart). Wobei auffiel, dass dort, wo Klimt vor 100 Jahren die "nackte Wahrheit" zeigte, in der Style-Bible anstößige Blößen mit Schamhaarperücken bedeckt oder retuschiert wurden.

Achtete die Style-Police in den frühen Jahren penibel darauf, dass man möglichst wenig Textil am Muskel-gestählten, Airbrush-gepainteten Körper trug, sorgt sie heute dafür, dass man auf gar keinen Fall zu exhibitionistisch auftritt. Geschuldet ist das der doppelbödigen Prüderie von Werbeträgern, Sponsoren und TV-Sendern, die den Life Ball unterstützen. Money rules.

Die pluralistische Wiener Melange, "gay friendly", gefiel sich früher in ästhetischer Exzentrik, im Ausleben unterschiedlicher Gesichter, Identitäten, ohne im Alltag notwendiger Masken, jenseits gängiger Geschlechter- und Rollenklischees. Explizite Nacktheit gab es damals wie heute. Es macht aber einen Unterschied, ob man sich Gleichgesinnten gegenüber exponiert oder Staffage einer live im TV übertragenen Freak-Show ist.

Perfektes Beispiel der Anbiederung an touristische Parameter ist das Motto des heurigen Life Ball: "Sound of Music". Mit diesem hat Keszler, mit Verlaub, einen Griff ins Glück getätigt. Nicht genug, dass man tagtäglich im Werbefernsehen unhinterfragt mit dem vom NS-Regime als Durchhalteparole missbrauchten Lied "Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder" gequält wird, hat die Geschichte der Trapp-Familie ein zweifelhaftes Odeur.

Abgesehen davon, dass man den Film hierzulande kaum kennt, ist "Sound of Music" als Kniefall vor amerikanischem und asiatischem Publikum zu verstehen, inklusive Verwechslungsgefahr mit Trachten-Burlesken, pubertär-schenkelklopfenden Karnevalsumzügen und Jägerball. Ausg’steckt is’. Hoch lebe der Provinzialismus. Hollareduliö mit Product-Placement. Lei, lei! Und all das im Gedenkjahr 2018.

Glamour, Demut und Hybris

Gery Keszler gilt als Perfektionist und Exzentriker. Das kann die Zusammenarbeit auch schwierig machen. Im Grunde ist das normal bei sensiblen, kreativen Geistern. Kontroversielle Kritik aber muss möglich sein – in der Folge kam es zu einer kreativen Pause, einer Nachdenkphase.

Vor kurzem stellte Keszler – ausgezeichnet mit dem Goldenen Verdienstzeichen des Landes Wien und dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich – ein bisschen demütig selbst die Frage, ob sein Ball in Zukunft noch notwendig sei. Die Antwort stellt sich in Wahrheit eigentlich nicht. Gerade, weil wir in Österreich, wie André Heller kürzlich gemeint hat, das Privileg genießen, "den Haupttreffer in der Geburtsort-Lotterie gewonnen" zu haben, gilt es, global Verantwortung wahrzunehmen.

Solange es auf der Welt Ausgrenzungen, Stigmatisierung, Verfolgung und Todesurteile aufgrund sexueller Orientierungen gibt, ist das soziale Engagement des Life Ball relevant – im Sinne der Charta der Menschenrechte. Als Fest des Lebens, exzentrisch, sinnlich, opulent, nachdenklich – und als Stachel im Fleisch der Sa turiertheit.

Bleibt zu hoffen, dass das sprichwörtliche, berühmt-berüchtigte "goldene Wiener Herz" wirklich so weltoffen und situationselastisch ist, wie es sich selbst gerne darstellt und vermarktet. (Gregor Auenhammer, 2.6.2018)