Konrad Paul Liessmann vermutet Bildungsverweigerer auch in der Schulbürokratie.

Foto: Heribert Corn

Er ist nicht "nur" Universitätsprofessor, der vorrangig das akademische Umfeld bedient. Konrad Paul Liessmann ist einer der produktivsten, öffentlichkeitsaffinsten und auch publikumswirksamsten Intellektuellen Österreichs, der immer schon mehrere Bühnen bespielt hat. Mit der Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers" etablierte er 2012 ein Format, das die Uni bewusst öffnete für ein breiteres Publikum, das seither 39 Vorträge zu Themen wie Ethik, Glück, schöner Scheitern, vom Pauker zum Begleiter, Mythos Leistung oder die Werte der Politik hören – und mit dem STANDARD als Kooperationspartner ebenso viele Interviews dazu lesen – konnte. Als Generalthema für dieses Semester formulierte Liessmann "Bildung als Grenzerfahrung. Die Gegenspieler: Fremdbestimmung, Abhängigkeit, Trägheit". Den letzten Vortrag dazu hält der Spiritus Rector selbst am 13. Juni (17 Uhr, NIG, Hörsaal 2, Universitätsstraße 7). Es ist zugleich sein letzter offizieller Auftritt an der Uni Wien, bevor Liessmann mit Ende September emeritiert wird. Aber keine Angst: Er wird auch in Zukunft zu hören sein, auch an der Uni.

STANDARD: Das Thema Ihres letzten Vortrags an der Uni lautet "Der faule Schüler. Bildungsverweigerung und warum es sie nicht geben darf". Waren Sie ein fauler Schüler?

Liessmann: Ich war phasenweise tatsächlich eher ein fauler Schüler. Ich hatte im Gymnasium andere Interessen: zuerst Fußball, dann die Weltrevolution. Ich habe nicht sonderlich gern gelernt und war auch kein besonders guter Schüler.

STANDARD: Warum darf es Bildungsverweigerung nicht geben? Weil dann "das Leben" versaut ist?

Liessmann: Nein, es darf Bildungsverweigerung nicht geben, weil diese als willentlicher Akt in unserem Konzept von Bildung als Ressource und Kompetenz nicht vorgesehen ist. Wenn die Lernergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen, dann ist immer jemand anderer schuld, aber nie der Schüler selbst. Stichwort Mathematik-Zentralmatura. Da sagt ja niemand: Da waren manche wohl zu faul und haben zu wenig gelernt, sondern der allgemeine Tenor, auch in den Medien, lautet: Das System ist schuld oder die Aufgabenstellung war falsch. Wir gehen davon aus, dass junge Menschen nichts lieber wollen, als in der Schule gut zu lernen, aber eine Reihe von Umständen – demotivierende Lehrer, schlechter Unterricht, fehlende Medien, falsche Zeitplanung, zu wenig Betreuung – hindert sie daran. Ich kenne kaum Bildungswissenschafter, Pädagogen oder Politiker, die sagen würden: Ja, es gibt junge Menschen, die wollen nicht lernen, die verweigern das, weil sie andere Vorstellungen vom Leben haben, die interessiert Bildung nicht – und das müssen wir akzeptieren.

STANDARD: Aber Sie sagen das?

Liessmann: Ja. Zumindest möchte ich das nicht ausschließen. Wenn jemand als "bildungsfern" – übrigens ein schreckliches Wort – bezeichnet wird, unterstellt man sofort, dass er durch ein ungerechtes System von der Bildung ferngehalten wird, aber zur Bildung befreit werden muss. Das wird in vielen Fällen auch tatsächlich so sein. Aber ich leiste mir den Luxus zu überlegen, ob es auch sein könnte, dass junge Menschen, die schon ein relatives Selbstbewusstsein und bestimmte Vorstellungen vom Leben haben, bewusst sagen: Nein, das interessiert mich nicht, das will ich nicht, ich möchte lieber etwas anderes machen.

STANDARD: Teenager schätzen die Tragweite dessen, was sie lieber (oder auch nicht) machen wollen, in Bezug auf ein selbstbestimmtes Erwachsenenleben aber oft nicht ganz realistisch ein – und haben dafür Eltern als Korrektiv bzw. eben auch die Schule.

Liessmann: Das ist richtig. Aber dann muss man auch den Mut haben, diese Leistungen mit sanftem Druck einzufordern. Abgesehen davon glaube ich auch, dass man sich nicht kurzschlüssig nur an den vermeintlichen Interessen von Jugendlichen orientieren soll. Interessen können auch geweckt werden, und manchmal ist das, was mit der Lebenswelt von Jugendlichen gar nichts zu tun hat, viel interessanter als das Wiederkäuen der eigenen Befindlichkeit. Es gibt aber keine Garantien, dass Bildungsangebote immer und von jedem angenommen werden müssen. Bildungsverweigerung hatte ja sehr lange eine Doppelbedeutung: Die Faulheit des Schülers war nicht nur Dokument eines fachlichen Desinteresses oder einer mentalen Lethargie, sondern mitunter auch Ausdruck der Rebellion. In den autoritären Bildungsstrukturen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts konnte Bildungsverweigerung zu einer Form des Protests gegen das Bildungssystem stilisiert werden. Aktuell können wir der Idee, dass jemand unser projekt- und kompetenzorientiertes Bildungssystem kritisiert, indem er sich diesem verweigert, eher wenig abgewinnen. Vielleicht sollte man, statt ständig schreckhaft auf die Ergebnisse von Evaluierungen und Pisa-Tests zu starren, einmal von der experimentellen Annahme ausgehen, dass es junge Menschen gibt, die womöglich gute Gründe haben, sich zu verweigern.

STANDARD: Welche Gründe für diese Verweigerung würden Sie gelten lassen? Wäre die von vielen aus unterschiedlichen Gründen kritisierte Zentralmatura ein Beispiel? Oder die von Ihnen etwa in der "Praxis der Unbildung" kritisierte Kompetenzorientierung?

Liessmann: Ich würde das zumindest nicht ausschließen. Kompetenzorientierung tötet systematisch jede Neugier, sie erlaubt es nicht, sich mit Fragen inhaltlich auseinanderzusetzen, sondern trainiert nur isolierte formale Fähigkeiten. Wer nur Lesekompetenz erwerben soll, ohne dass ihm je überzeugend klargemacht wird, welche lesenswerten Bücher es gibt, wird wenig Freude am Lesen haben und diese Kompetenz bald wieder verlieren. Das ist eigentlich Betrug an jungen Menschen, denen das Beste unserer Kultur vorenthalten wird. Die Zentralmatura dokumentiert nur diese Misere, und sie erlaubt weder Lehrern noch Schülern, besondere Interessen oder Schwerpunkte zu demonstrieren. Wer das Mittelmaß zum Maßstab macht, wird eben immer nur Mittelmaß produzieren. Das zeigt auch, dass die wahren Bildungsverweigerer mitunter in den Zentren der Bildungsbürokratie und in den Reformkommissionen sitzen.

STANDARD: Es bleibt in jedem Fall hochriskant für die Verweigerer, weil Bildungsverweigerung letztlich doch hohe biografische Kosten bedeuten kann. Würden Sie dennoch so weit gehen, wo Paul Lafargue das "Recht auf Faulheit" gefordert hat, ein "Recht auf Bildungsverweigerung" zu formulieren?

Liessmann: Kokettieren könnte man damit. Die neuerdings postulierte "Bildungspflicht" reizt ja geradezu zu einem Plädoyer für das Recht auf Bildungsverweigerung. Natürlich soll niemand von Bildungsangeboten ausgeschlossen werden; wer sie aber nicht nützen möchte, sollte sich dem verweigern dürfen – allerdings mit allen Konsequenzen. Man könnte polemisch hinzufügen, dass diese nicht so schlimm sein müssen, denn die Karrieren mancher Bildungsverweigerer sind ja heute atemberaubend. Tatsächlich möchte ich aber dazu beitragen, junge Menschen nicht nur als Objekte von Bildungsplanung und -prozessen oder von Input-Output-Strategien zu sehen, sondern sie in ihrem Verhalten ernst zu nehmen. Vielleicht muss man ihnen auch klarmachen, dass Bildung nicht nur Spaß macht. Manche Bildungsverweigerer verweigern ja vielleicht auch deshalb, weil es zu wenig Spaß macht. Sie wachsen in einer Spaß-, Ablenkungs- und Zerstreuungskultur auf und kommen dann in eine Schule, in der es nicht nur Spaß gibt, und das gefällt ihnen nicht. Sie müssen auch lernen: Das Leben besteht nicht nur aus Spaß. Wissen zu erwerben, Zusammenhänge zu verstehen, Texte zu lesen, Probleme zu analysieren, Fähigkeiten zu üben, das Gedächtnis zu schulen – all das ist etwas, das auch mühsam sein und nicht nur spielerisch passieren kann. Die Schule kommt dieser durch die Unterhaltungsindustrie gezüchteten Spaßmentalität mittlerweile ohnehin schon sehr entgegen.

STANDARD: In welcher Form?

Liessmann: Sie vergisst die alte Einsicht, dass es eine Lust gibt, der die Anstrengung und Entbehrung vorausgegangen sein muss. Im Übrigen träume ich von einer Schule, in der alles ganz anders ist als sonst im Leben; in der es keine Smartphones und Tablets gibt, keine virtuellen Freundschaften und keine Gamification, sondern in der Neugier und Freude am Lernen durch die konzentrierte Auseinandersetzung mit der Sache, nicht durch das Design der Umgebung oder durch die Oberflächen der Medien entfacht wird. Und sollte Faulheit eine Form der Muße sein, dann wäre der faule Schüler ohnehin der beste: Denn die "Schule" leitet sich von "scholé", dem griechischen Wort für Muße, ab. (Lisa Nimmervoll, 4.6.2018)