Sie scheint über unerschöpfliche Energie und Wachsamkeit zu verfügen. In ihr arbeitet ein feiner Sinn für brisante Erscheinungen in Kunst und Gesellschaft. Und sie besitzt Wissen darüber, wie Körper von unserer Gegenwart geprägt werden. Nicht ohne Grund zählt Mette Ingvartsen, 1980 im dänischen Århus geboren, zu den angesagtesten europäischen Choreografinnen. Mit ihrem Tanz to come (extended) wird sie das Salzburger Festival Sommerszene eröffnen (5. 6.) und später auch ihre jüngste Arbeit 21 pornographies zeigen (7. 6.).

Mette Ingvartsen (38) thematisiert den Versuch, den Körper durch Verkünstlichung der Natur zu überwinden.
(Szenenfoto aus jüngster Produktion "21 pornographies")
Foto: Jens Sethzman

Wie schon die Stücktitel verraten, kennt Ingvartsen keine Angst vor heißen Eisen. Da es sie stört, dass "Pornografie nicht mehr nur der Film ist, der dich unterhalten soll, sondern auch ein Paradigma der kulturellen Industrie", widmet sie dem Thema seit vier Jahren die Reihe Red Pieces, zu der auch die 21 pornographies gehören. Voyeure, die auf Titel wie 69 positions oder 7 pleasures sowie auf die Bilder anspringen, mit denen diese Performances angekündigt werden, sind willkommen. Gerade sie geraten im Theater eventuell in Verwunderung darüber, wie weit Ingvartsen das P-Wort definiert. Denn für sie zählt die Frage: "Was bedeutet es, wenn unsere Wünsche und Genüsse permanent stimuliert und gekapert werden? Genau das passiert überall. Der Kapitalismus nutzt es, die Pornoindustrie ist riesig."

Reiz und Abbruch

Pornos funktionieren so, dass ein Reiz ausgeübt und zurückgenommen wird, worauf ein weiterer Reiz folgt, der durch abermaligen Abbruch den Hunger nach mehr steigert: "Das erzeugt ein ständiges ,Kommen' – du musst immer wieder und wieder einsteigen, da es kein ,Ende' gibt." Dieses Prinzip wirke auch bei Videospielen, "sodass Kinder von den Affekten, die diese Spiele in ihren Körpern produzieren, geradezu besessen werden". Ein Albtraum. Vor allem für jene, die wie die Künstlerin selbst Kinder haben.

Trotz dieses Ansatzes kommt keines der vier Red Pieces belehrend daher. Genauso wenig werden Zuschauer durch Minimalismus provoziert, Ingvartsen sucht beim Experimentieren das sinnliche Erlebnis und das Abenteuer. In einem ihrer frühen Stücke wollte sie wissen, Why we love action. Da hatte sie sich bereits von den strengen Formen einer konzeptuellen Choreografie verabschiedet.

Sehnsucht nach einem ungebundenen Körper

Als ihr Talent entdeckt wurde, war sie noch Studentin in P.A.R.T.S., Anne Teresa De Keersmaekers Tanzakademie. Es hat alles gestimmt: Sie knüpfte Verbindungen, die ihr ermöglichten, ihre frühreifen Werke bei wichtigen Festivals zu zeigen. Obwohl oder vielleicht weil klar war, dass sie kaum Stücke produzieren würde, in denen "normal" getanzt wird.

So ist es geblieben. Ingvartsen ist, um die Sehnsucht nach einem ungebundenen Körper zu zeigen, Trampolin gesprungen. Sie hat mit Licht, Nebel und Sound Stücke ohne Tänzer geschaffen und das Publikum auf Wanderschaft durch einen von Lichtinstallationen verzauberten Wald geschickt. Sie hat sich mit der kalten Poesie urbaner Ballungsräume ebenso auseinandergesetzt wie mit exzessiver Kultivierung von Natur. In ihrem Artificial Nature Project etwa brachten vermummte Performer Wolken aus metallisch schillernden Konfetti zum Tanzen.

Masken alter Männer

Nackt aufgetreten ist Ingvartsen schon in ihrem zweiten Stück, das drei Frauen zeigte, die durchgehend ihre Rücken zeigten und auf den Hinterköpfen Gummimasken mit Gesichtern alter Männer trugen. Das war vor fünfzehn Jahren, als Queerness im Tanz noch kaum thematisiert wurde. Und ein Jahr später, in ihrem Solo 50/50, trug sie nichts als Turnschuhe und Ganzkopfperücke, ließ Sound krachen und brachte Muskeln, Körperfett und Haut zum Vibrieren. Eine ähnliche Technik hat Doris Uhlich in Österreich später zu ihrem, wie sie es damals nannte, "Fetttanz" ausgebaut.

Ingvartsens Tanzstück "7 Pleasures"
Foto: Marc Coudrais

Ingvartsens Themen kreisen um Trends im Umgang mit dem Körper: um den Versuch, diesen durch Verkünstlichung der Natur zu überwinden, und um das gewinngeile Ausschlachten der Lust. Das eine läuft unter Posthumanismus, das andere unter Pornografie. Die Choreografin pfeift zwar auf den Rückzug in die Askese, aber nicht auf den Durchblick: "Wenn man die Mechanismen des Genusses verstehen will, muss man auch spüren, was sie mit einem machen." (Helmut Ploebst, 4.6.2018)