Zu Putins Besuch in Wien werden die russischen Flaggen in der Hofburg gehisst.

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Die Beziehungen zwischen Russland und der EU haben schon bessere Zeiten gesehen. Doch der Bruch hat sich seit Jahrzehnten abgezeichnet, sagt der Russland-Forscher Alexander Dubowy. Die aktuellen Sanktionen, so der Politologe, seien bloß der sichtbare Ausdruck einer jahrelangen Entfremdung. Welche Rolle Wien heute in der Krise einnimmt, erklärt er im Gespräch mit dem STANDARD.

STANDARD: Wladimir Putins erster Auslandsbesuch nach seiner Wiederwahl führt nach Österreich: Ist das aus russischer Sicht ein politisches Signal – und wenn ja, welches?

Dubowy: Nachdem der Arbeitsbesuch anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Gasliefervertrags zwischen Österreich und der Sowjetunion stattfindet, werden die Kooperationen im Energiebereich im Mittelpunkt stehen, unter anderem wohl auch das aktuelle Pipelineprojekt Nordstream 2. Österreich ist aus russischer Sicht ein wichtiger Gasverteilknotenpunkt in Europa. Auch im Projekt der Breitspurbahn sollte Österreich eine prominente Rolle einnehmen. Die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2018 macht Österreich darüber hinaus für Moskau zu einem attraktiven Gesprächspartner.

Angesichts der wachsenden österreichischen Investitionen in Russland sowie der nennenswerten Präsenz österreichischer Unternehmen am russischen Markt wird eine weitere Vertiefung wirtschaftlicher Kooperation diskutiert werden, soweit diese unter den Sanktionen überhaupt möglich ist. Zudem versucht Russland den gegenwärtigen sanktionsskeptischen Trend in der EU sowie die sich abzeichnende Krise in der EU-USA-Beziehung für sich zu nutzen. Schließlich zeugt der Arbeitsbesuch von der Tatsache, dass Russland in Europa nicht völlig isoliert ist.

STANDARD: Will Putin die Beziehungen zur EU insgesamt verbessern?

Dubowy: Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass Moskau die Beziehungen zur EU normalisieren möchte. Das politische System Russlands durchläuft derzeit die tiefste Transformationsphase seiner gesamten Geschichte. Für eine erfolgreiche innere Transformation mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2024 bedarf es aber eines stabilen außenpolitischen Umfelds und einer Deeskalation der Beziehungen zum Westen. Parallel dazu wird Russland versuchen, seine bilateralen Beziehungen zu einzelnen EU-Staaten zu verbessern.

STANDARD: Hat Putin die Erwartung, dass Österreich während des EU-Ratsvorsitzes eine Art Fürsprecher für Russland spielt?

Dubowy: In Russland ist man der Überzeugung, dass innerhalb der EU im Wesentlichen Deutschland entscheidet. Die Entscheidungen Berlins werden in Brüssel lediglich umgesetzt, so die vorherrschende Meinung innerhalb der russischen Führung. Aus diesem Grund hängt – aus der Sicht Moskaus – auch die Frage nach der Zukunft der Sanktionen von der Position Deutschlands ab.

Moskau schätzt Wien als glaubwürdigen Vermittler in der Beziehungskrise zwischen der EU und Russland, versteht aber zugleich, dass ein Sonderweg Wiens innerhalb der EU insbesondere während des EU-Ratsvorsitzes nicht zu erwarten ist. Denn so wichtig die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland für Österreich auch sein mögen, bleiben die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland, einigen anderen EU-Staaten sowie den USA für Österreich grundsätzlich wichtiger. Auch in der Sanktionsfrage ist die Position Wiens eindeutig: Die Sanktionen sollen ausschließlich in Übereinstimmung mit allen EU-Staaten abgebaut werden.

STANDARD: Welche Auswirkungen hatten die Sanktionen bislang auf Russland? Hat Moskau überhaupt Interesse an der Aufhebung der Sanktionen?

Dubowy: Bislang hat sich die russische Wirtschaft dem Sanktionsregime gegenüber widerstandsfähig gezeigt – nicht zuletzt aufgrund der Rohstoffabhängigkeit der russischen Wirtschaft. Am stärksten wirken sich die Sanktionen im technologischen Bereich aus, auf den Erdöl- und den Erdgassektor sowie auf die Rüstungsindustrie.

Insgesamt darf allerdings ernsthaft in Zweifel gezogen werden, ob ein nachhaltiger Ersatz von Importen aus der EU und den Nato-Staaten erreicht werden kann. China und andere Staaten der Brics-Gruppe stellen für Russland im Bereich der Technologieimporte eine unzureichende Alternative zu westlichen Hochtechnologiestaaten dar. Die langfristigen Auswirkungen von Sanktionen auf die russische Wirtschaft dürften daher durchaus dramatisch ausfallen.

STANDARD: In letzter Zeit wird neben den üblichen Verdächtigen wie Ungarn, Italien und Österreich auch in politischen Diskussionen in Deutschland und in Frankreich über eine Aufhebung der EU-Sanktionen nachgedacht. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Dubowy: Trotz berechtigter Skepsis und angesichts sanktionsbedingter Einbußen einzelner EU-Staaten dürfte der pragmatische Grundtenor innerhalb der EU eindeutig lauten: Die Wiederannäherung an Russland darf weder die Einheit der EU gefährden noch die Beziehung zu den USA belasten. Überhaupt ist die Frage der Sanktionen eine zu komplexe, um zu einem bloßen politischen Mantra erklärt zu werden. Die wirklich wichtige Frage lautet: Was kommt nach den Sanktionen? Eine Rückkehr zum Status quo ante ist nur noch schwer vorstellbar und auch nicht wirklich wünschenswert. Zwischen der EU und Russland bedarf es eines neuen, nachhaltigen Beziehungsmodells.

Die Annexion der Krim so wie der Ausbruch des Donbass-Konflikts sind zwar die unmittelbaren Auslöser, aber nicht der eigentliche Grund für den Bruch in den Beziehungen zwischen der EU und Russland. Der Beziehungsbruch hat sich über die vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte schrittweise abgezeichnet. Von Anbeginn an gab es unterschiedliche Erwartungshaltungen über die Zielsetzungen der gemeinsamen Beziehung. Eine gemeinsame Vision über die Zukunft der Beziehungen konnte gar nicht erst entstehen. Man verwendete gleiche Begriffe und verstand doch Unterschiedliches darunter. Obwohl im Rahmen unzähliger Dialogforen ständig miteinander gesprochen wurde, redeten beide Seiten 25 Jahre lang aneinander vorbei. Die massive gegenseitige Enttäuschung war vorprogrammiert.

Die gegenseitigen Sanktionen sind der sichtbare Ausdruck der Entfremdung. Trotz der Schwächung transatlantischer Bande ist zwischen der EU und Russland bestenfalls nur noch eine rein pragmatische Wirtschaftspartnerschaft vorstellbar. Eine strategische Partnerschaft im umfassenden Sinne ist nicht mehr zu erwarten. Die EU und Russland werden nur noch nebeneinander, aber nicht mehr miteinander leben.

STANDARD: Sehen Sie eine Chance für den Minsk-Prozess?

Dubowy: Die Minsker Abkommen bleiben bis heute die einzige Grundlage für die Lösung des Donbass-Konflikts. Ihre Umsetzung hängt aber sowohl von internationalen als auch von ukrainischen nationalen Vorbedingungen ab. Die zentrale internationale Vorbedingung bildet die Zusammenarbeit zwischen Washington und Moskau.

Was die ukrainischen nationalen Vorbedingungen anbelangt, so bleibt die Umsetzung der Minsker Abkommen aufgrund innerukrainischer politischer Konstellationen nach wie vor unwahrscheinlich. Die in den Minsker Abkommen von Kiew geforderten Schritte stoßen auf starken Widerstand innerhalb weiter Teile politischer Eliten und sind derzeit nicht mehrheitsfähig.

Eine UN-Friedensmission findet zwar in den Minsker Abkommen keine Erwähnung, könnte aber als eine Art Katalysator dienen. Für Russland würde eine UN-Mission eine willkommene Exitstrategie aus dem Konflikt in der Ostukraine bieten. Angesichts der konfliktgeladenen Beziehung zwischen Washington und Moskau stellt das weitere Einfrieren des Donbass-Konflikts das wahrscheinlichste Szenario aus heutiger Sicht dar.

STANDARD: Der Fall Skripal, die Wahlkampfbeeinflussungen, die Beziehungen zu links- und rechtsextremen Parteien in Europa: Der Eindruck entsteht, dass Russland die EU destabilisieren will. Oder ist alles nur ein großes Missverständnis?

Dubowy: Das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland ist nachhaltig zerrüttet und wird noch lange Zeit von gegenseitigen Vorwürfen überschattet bleiben. Ernstzunehmende stichhaltige Beweise für die Wahrheit der Vorwürfe dürften aber weitgehend ausbleiben. Selbst wenn man Moskau sowohl den politischen Willen als auch die technische Befähigung zu einem solchen Vorgehen unterstellt, muss die Ursächlichkeit des Erfolges dieser Handlungen angezweifelt werden.

Vielmehr offenbaren die Vorwürfe zunehmende Orientierungslosigkeit und eine tiefe politische und gesellschaftliche Krise des Westens, die wesentlich bedrohlicher erscheint als jedwede Versuche der Einflussnahme von russischer Seite. Darüber hinaus führen diese Ereignisse ein weiteres Mal eindrucksvoll Beweis, dass die nach dem Zerfall der Sowjetunion etablierte Weltordnung im Auflösen begriffen ist und die Welt auf eine konfrontative Multipolarität und globale Unordnung hinsteuert. (Manuela Honsig-Erlenburg, 5.6.2018)