Einst stellte David Cameron als Oppositionsführer Tony Blair die Fragen, später musste er sich selbst den Fragen stellen. Wer auch immer in London regiert, hat vor der traditionellen "Question Time" am Mittwochmittag Grund, nervös zu sein.

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Ohne Zweifel, so hat es Tony Blair seinem Memoirenband "Mein Weg" anvertraut, seien die allwöchentlichen Fragestunden des Premierministers "die nervenaufreibendsten, peinlichsten, angespanntesten Momente" seiner Karriere als Regierungschef Großbritanniens (1997–2007) gewesen. Dem Verdikt dürften sämtliche Nachfolger und gewiss auch viele Vorgänger des einstigen Labour-Strahlemanns zustimmen. Die rhetorisch unbeholfene Amtsinhaberin Theresa May (61) wirkt jedenfalls mittwochs zur Mittagsstunde immer, als habe sie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt vor sich.

Derzeit treten meist Premierministerin Theresa May und Oppositionschef Jeremy Corbyn gegeneinander an. Meister der geschliffenen Rhetorik sind beide nicht.
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Anders als in Deutschland, wo Kanzlerin Angela Merkel sich am Mittwoch erstmals den Fragen der Abgeordneten stellte, gehört "Prime Minister's Questions" bereits seit dem 19. Jahrhundert zum Repertoire des Londoner Unterhauses. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste der Regierungschef zweimal pro Woche den Abgeordneten jeweils 15 Minuten lang Rede und Antwort stehen; Blair schnurrte dies 1997 kurzerhand zu einem Termin von 30 Minuten Länge zusammen.

Ein Moment, den alle wahrnehmen

Seit 2003 beginnt die halbe Fragestunde stets mittwochs um zwölf Uhr. Und stets verfügt der Oppositionsführer über sechs Fragen, der Fraktionschef der drittgrößten Partei im Unterhaus – lange Zeit die Liberaldemokraten, derzeit die Schottische Nationalpartei (SNP) – darf zwei Fragen stellen. Anschließend kommen die Hinterbänkler aller Fraktionen zu Wort, ausgewählt nach dem Zufallsprinzip. Umfragen zufolge ist das der einzige Moment im Parlament, den die politisch eher uninteressierte Bevölkerung wenigstens ab und zu wahrnimmt.

"Sie waren doch auch mal die Zukunft", sagte David Cameron einst zu Premier Tony Blair. Das drehte Premier Gordon Brown später gegen Oppositionschef Cameron um. Mittlerweile sind alle drei Vergangenheit.
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Rhetorische Ohrfeigen bleiben am Regierungschef kleben wie Pech. Der frischgebackene Oppositionsführer David Cameron stellte 2005 sein Gegenüber Blair mit einem höhnischen Satz bloß: "Sie waren doch auch mal die Zukunft!" Blairs Labour-Nachfolger Gordon Brown (2007–2010), als erbarmungsloser Kontrollfreak bekannt, musste sich nach einem halben Jahr Amtszeit vom Liberaldemokraten Vincent Cable vorhalten lassen, er habe eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht: "von Stalin zu Mister Bean", dem Helden des Komikers Rowan Atkinson.

Von Stalin zu Mr. Bean geworden zu sein, das musste sich Premier Gordon Brown anhören.
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Da lachten selbst viele Abgeordnete der eigenen Fraktion – immer die demütigendste Erfahrung für den jeweiligen Premierminister.

Violette Gesichter verlieren

Dementsprechend akribisch lassen sich Regierungschef und Oppositionsführer auf den rhetorischen Schlagabtausch vorbereiten, den Blair als "eine Art modernes, geistiges Duell" beschrieb. Wenn die Antworten immer länger, der Tonfall schrill, die Gesichtsfarbe violett wird, weiß das Gegenüber: Ich bin auf der Siegerstraße. Brown zitterten einmal vor Wut die Hände, einmal stieg seine sonore Baritonstimme auf die Tonlage eines Heldentenors. Beim Premier Cameron (2010–2016) klangen die Antworten schnell gereizt und rechthaberisch.

William Hague gegen Tony Blair. Kommentatoren schrieben meist Hague die Siege zu – doch die Wahlen gewann Blair.
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Bei aller Aufmerksamkeit auf die allwöchentlichen 30 Minuten – überschätzen sollte man die Bedeutung der Fragestunde nicht, solides Regierungshandeln bleibt allemal wichtiger. Dem Tory-Oppositionsführer und späteren Außenminister William Hague schrieben die Beobachter zwischen 1997 und 2001 immer wieder klare Punktsiege gegen Blair zu. "Genützt hat es mir nichts", räumte Hague nach haushoch verlorener Wahl ein und trat zurück. (Sebastian Borger aus London, 6.6.2018)