Poesie der kleinen Dinge und radikale Kritik an der Politik: Arundhati Roy legte 2017 nach zwanzig Jahren ihren zweiten Roman vor.

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Wien – Alles im Leben, schreibt Arundhati Roy in ihrem ersten Roman Der Gott der kleinen Dinge, kann sich in nur einem Tag, manchmal auch innerhalb einer Sekunde ändern. Und in der Tat deutete zunächst wenig darauf hin, dass Roys 1997 erschienener Erstling, der das Kleine und Hinfällige (darunter die Liebe) feiert, gerade weil das vermeintlich Große (zum Beispiel das indische Kastenwesen) schließlich darüber triumphiert, zu einem Welterfolg mit mehr als sechs Millionen verkauften Exemplaren werden würde.

1961 als Tochter eines Hindus und einer Christin in West-Bengalen geboren, machte sich Arundhati Roy mit 16 Jahren auf, um in Delhi das kennenzulernen, was sie in ihrem zweiten Roman Das Ministerium des äußersten Glücks (2017) als "den internationalen Supermarkt des Leids" bezeichnet. Sie lebte im Slum, hielt sich mit dem Verkauf leerer Bierflaschen über Wasser, inskribierte an der Delhi School of Architecture, brach ihr Studium ab, heiratete, trennte sich wieder – und ging nach Italien, wo sie an einem Restaurationsprojekt arbeitete.

Dort entdeckte sie auch das Schreiben für sich, zunächst in Form von Drehbüchern, die sie, zurück in Indien, für ihren zweiten Mann schrieb. Mit geringem Erfolg – bis Der Gott der kleinen Dinge, an dem sie vier Jahre gearbeitet hatte, die Autorin dann in die erste Reihe der internationalen Literatur katapultierte.

Ausweitung der Kampfzone

Der komplex gebaute Roman, der sich wuchtig und poetisch zugleich mit den Dämonen des indischen Kastensystems und dem Erbe des englischen Kolonialismus in einem vielfach gespaltenen Land auseinandersetzt, brachte der Roy, deren Lesungen zuweilen von Schlägertrupps beendet werden, in Indien Gerichtsverhandlungen ein, unter anderem wegen "Gefährdung der öffentlichen Moral" und der "unötigen" Beschreibung sexueller Handlungen.

All das hinderte die Autorin allerdings nicht daran, die literarische Kampfzone in Form zahlreicher Essays weiter auszudehnen. Unter anderem schloss sie sich der Protestbewegung gegen den Narmada-Staudamm an und protestierte gegen Hindu-Nationalismus, die ökonomischen Ungerechtigkeiten der Globalisierung, den Irak-Krieg sowie die amerikanische Geopolitik.

Das Uneindeutige

Zwanzig Jahre hat es dann gedauert, bis Roy im vergangenen Jahr ihren zweiten Roman Das Ministerium des äußersten Glücks (S. Fischer) vorlegte, für den sie am Freitag im Renner-Institut mit dem Bruno-Kreisky-Preis ausgezeichnet wird. Der Poesie der kleinen Dinge ist sie auch in diesem Roman treu geblieben, der sich allerdings noch radikaler als ihr Debüt mit den politischen Konflikten in Indien beschäftigt.

Im Mittelpunkt des Romans steht der Hermaphrodit Anjum, der durch seine Zweigeschlechtlichkeit für das Uneindeutige, aber auch potenziell Vereinende steht. Um ihn herum sind zahlreiche Figuren sowie eine beträchtliche Zahl von Handlungsfäden arrangiert. So spielt der Roman etwa auch in die Kaschmir-Region, wo muslimische Aufständische gegen die Regierung kämpfen. Die Hindu-Pogrome gegen Muslime im Jahr 2002 werden im Roman ebenso thematisiert wie die Giftgaskatastrophe in der Fabrik einer US-Firma in Bhopal.

Das Ministerium des Glücks ist ein beunruhigendes, zuweilen brutales, aber am Schluss nicht hoffnungsloses Buch. Es handelt – auch – von jenem Nationalismus der einfachen Feindbilder, der für die streitbare Autorin nichts weniger ist als der "siamesische Zwilling" einer entfesselten Ökonomie und zynischen Geopolitik. Nicht nur in Indien. (Stefan Gmünder, 7.6.2018)