Bemerkenswerte Menschen zeichnen sich durch Widersprüche aus: Ágnes Heller

Foto: Heribert Corn

Vor dem Hintergrund der beängstigenden historischen Entwicklungen unserer unmittelbaren Nachbarschaft lässt sich "Mitteleuropa" als ein Erfahrungskomplex bestimmen, in dem binnen eines Jahrhunderts eine Kette von Ereignissen stattgefunden hat, für die die Geschichte üblicherweise Jahrhunderte benötigt: der Zusammenbruch eines Imperiums, die Entstehung fragiler Staaten, zwei Weltkriege, die weitgehende Vernichtung des Judentums, der zeitweilige Triumph zweier totalitärer Systeme, die Vertreibung von Millionen von Menschen, das Schicksal des Exils. Und als intellektueller Hintergrund der Aufstieg und Niedergang des politischen Marxismus zwischen 1917 und 1989.

Das sind die Themen von Péter Nádas' großem Werk – und dies bildet den Lebenshintergrund der Ágnes Heller. Österreich, einstiges Kernland und später Rest des Reiches, befindet sich auf dieser mentalen Landkarte übrigens ganz am Rande. Es entging nach 1945 jenem historischen Schrecken, der im Zentrum Europas auf Nationalsozialismus und Faschismus ein Regime an die Macht brachte, das zunächst als Befreiung erschien und sich in einer negativen dialektischen Volte als abermaliges Verhängnis erwies: die stalinistische Version des "realen Sozialismus".

In diese verdichtete, polyphone historische Konstellation gehört die Philosophin und Essayistin Ágnes Heller, die 1945 nur um Haaresbreite der Shoah entrann, ganz zweifelsfrei ebenso wie der um eine Generation ältere "Altösterreicher" Manès Sperber, der schon sehr viel früher, nämlich im französischen Exil mit dem "Marxismus-Leninismus" gebrochen hat, aber diesem wie so viele sein Leben lang negativ verhaftet blieb.

Erfahrungsraum Mitteleuropa

In diesen historischen Komplex gehört auch jener Mann, dessen Schülerin und Assistentin Heller gewesen ist: György Lukács, der seit den 1960er-Jahren die Marx'sche Theorie parallel zur Praxis-Gruppe in Jugoslawien und wie schon zuvor Karl Korsch und Antonio Gramsci neu zu leben trachtete. Den neuen Herrn nach 1945 galt er immerhin als so unzuverlässig, dass er nicht die offizielle Doktrin, sondern nur, zumeist in einem Nischenbereich, das, was geringschätzig als "bürgerliche Philosophie" bezeichnet wurde, lehren durfte. 1956 stellte er sich auf die Seite der Revolution, deren Niederschlagung er knapp überlebte. In den 1960er-Jahren wurde er, nicht nur in Ungarn, sondern auch im Westen zum theoretischen Hoffnungsträger einer Linken, die den Einspruch gegen den Kapitalismus mit Kritik am "realen Sozialismus" verband – das war übrigens vor dem magisch gewordenen Jahr 1968.

Der mitteleuropäische Erfahrungsraum ist durch Brüche gekennzeichnet. Wie Ágnes Heller diese Brüche verarbeitet hat, ist bemerkenswert. Ich bin das erste Mal in den 1970er-Jahren auf sie gestoßen, nämlich auf den 1974 bei Merve erschienenen Band über die neue Linke in Ungarn mit Beiträgen von ihr und drei Weggefährten, etwa ihrem Mann Ferenc Feher, András Hegedüs und György Markus. In den 1980er-Jahren lernte ich die mittlerweile im Exil lebende Nachfolgerin von Hannah Arendt dann persönlich durch ein ausführliches Rundfunkgespräch kennen, das um zwei Themen kreiste: um die Notwendigkeit einer politischen Ethik, die bei Marx und erst recht im offiziellen Marxismus des 20. Jahrhunderts, von löblichen Ausnahmen (Austromarxismus) abgesehen, stets eine Leerstelle geblieben war, sowie um die damals so prominenten, heute vergessenen Themen der Genese und der Zukunft der Moderne in Gestalt der Postmoderne.

Auf den Spuren Foucaults

In den 1990er-Jahren wandte sich Ágnes Heller auf den Spuren Foucaults eben jener Biopolitik zu, die sie mit kritischem Blick auch bei den Grünen am Werk sah. Spätestens seit 2011, als Heller zum 100. Geburtstag von Lukács Jugendwerk Die Seele und die Formen am Uni-Campus – angesichts politischer Drohungen – vor geladenen Gästen vortrug, ist Heller hierzulande präsent wie vielleicht nie zuvor. Dass sie die inzwischen programmatisch autoritären gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrem Heimatland aber auch andernorts (Venezuela) kritisiert, gehört zum Bild einer Theoretikerin, die der Erfahrungsraum Mitteleuropa zu einer unbeugsamen Anhängerin einer offenen, auf Menschenrechten aufbauenden Gesellschaft gemacht hat.

Bemerkenswerte Menschen zeichnen sich durch Widersprüche aus. In einer großartigen Abschlussdiskussion zu einem Symposion, das vor einigen Jahren damals noch am ungarischen Kulturinstitut stattfinden konnte, erklärte sie gegenüber dem italienischen Germanisten und Romancier Mauro Ponzi, dass die Marx'sche Arbeitswertlehre, auf der seine Analyse des Kapitalismus beruht, grundverkehrt sei, zugleich aber bezeichnet sie sich in einem 2017 auf Deutsch erschienenen Buch Eine kurze Geschichte meiner Philosophie als Marxistin, auch wenn ihre Zustimmung zum diesjährigen Jubilar höchst zurückhaltend ausfällt. Womöglich denkt sie dabei nicht an dessen manifeste Aussagen, sondern an eine bestimmte Perspektive, mit deren Hilfe sie theoretische Brüche, die mit Ereignissen wie 1956, dem Exil, 1989 und der Etablierung eines postkommunistischen und neoautoritären Regimes in Zusammenhang stehen, in ein narratives Format der Kontinuität bringt.

Was sie mit Marx verbindet

Was sie mit Marx verbindet, sind die großen Fragen. Bis zu ihrer Emigration habe sie, schreibt Heller, stets nur in der Frage gedacht: Was ist? Sie sei stets nur an Ontologie interessiert gewesen, an Fragen der Geschichtsphilosophie, der Ethik und der Ästhetik. An der Geschichte der Bedürfnisse, Gefühle und Vorurteile zum Beispiel. Der selbstkritische, uneitle Rückblick Hellers ist ungewöhnlich, etwa wenn sie die Schwächen des einen oder anderen eigenen Buches hervorhebt.

Bei der Lektüre der Texte und Bücher der "Marxistin" Heller tritt ein Abstand zwischen ihr und bestimmten linken Diskursen zutage. Schon die junge neue Linke von 1974 misstraut ihren Pendants im Westen, ähnlich wie die Protestanten des Prager Frühlings setzt sie auf eine liberale Versöhnung von Demokratie und solidarischer Gesellschaft, sie bleibt skeptisch gegenüber den radikalen Selbstbefreiungsversuchen der 1968er.

Der Feminismus ist ihrem weiblichen Selbstbewusstsein so selbstverständlich wie zugleich fremd. Zu dem Erfahrungsraum Mitteleuropa, der sie fortdauernd prägt, gehört die Unversöhnlichkeit gegenüber einem Totalitarismus, den sie zweimal hautnah und lebensgefährlich miterlebt hat. Kürzlich ist von ihr ein Buch über das Komische – auch dies ein Einspruch gegen den Hegel-Marxismus – erschienen, das mit der an Milan Kundera erinnernden Einsicht endet: Weil der Mensch sterblich bleibt, ist das Komische unsterblich. (Wolfgang Müller-Funk, 13.6.2018)