Huang lenkt sein Motorboot mit den Touristen auf zehn Meter an das nordkoreanische Ufer heran. Der Fünfsitzer schaukelt auf dem Fluss Yalu, an dieser Stelle ein 1.000 Meter breiter Strom, der China von Nordkorea trennt. Auf der chinesischen Seite befindet sich die 2,5-Millionen-Einwohner-Metropole Dandong, auf der nordkoreanischen die Stadt Sinuiju mit 340.000 Einwohnern. Es ist ein strategischer Knotenpunkt, das größte Handelszentrum zwischen den zumindest formal verbündeten Staaten.

Der Bootskapitän zeigt auf das nordkoreanische Ufer. Die Grenzer kontrollieren ihre Landsleute, die mit großem Gepäck aus einem nordkoreanischen Passagierboot aussteigen. Dann fährt Huang direkt auf ein Boot der Küstenwache zu. "Nicht fotografieren!", warnt er. Aber die Grenzsoldaten winken nur freundlich den Ausländern zu. "Sie reagieren zurzeit sehr viel entspannter als früher", sagt er und lächelt.

Hoffnung auf neue Ära

Kurz vor dem Treffen von US-Präsident Donald Trump mit dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un in Singapur herrscht in Dandong wieder Optimismus. Die Menschen hoffen auf den Beginn einer neuen Ära, die auch ihre Grenze öffnen wird. Denn bei den Gesprächen geht es nicht nur um die Denuklearisierung Nordkoreas. Sollte es wirklich zu einer Art Friedensvertrag kommen, steht auch eine sicherheits- und geopolitische Neuaufstellung im Nordosten Asiens an, einer potenziellen Boomregion mit einer zentralen Rolle für die Grenzstadt. Die geostrategischen Entscheidungen in Singapur sind auch Dandongs historische Chance.

Immer wieder bekam die Stadt am Yalu, dem "Freundschaftsstrom", die ihren traditionellen Namen Andong (Stabilität im Osten) 1965 in den revolutionären Namen Dandong (Roter Osten) änderte, schmerzhaft zu spüren, was es heißt, an der Grenze eines unberechenbaren Nachbarn zu liegen. Hier fielen während des Koreakriegs 1950 bis 1953 amerikanische Bomben auf Chinas Territorium, hier ist die Bedrohung durch Kims Nukleararsenal besonders konkret, der seine Raketen und Atomwaffen keine 100 Kilometer von Dandong entfernt testen ließ. Und hierhin würden hunderttausende Nordkoreaner flüchten, sollte das Regime zusammenbrechen.

Umgarnter Kim

Doch wenn der Singapur-Gipfel erfolgreich ist, könnte sich auch das Blatt für Dandong wenden und es zur treibenden Kraft eines neuen Wachstumszentrums bis nach Südkorea machen. Alle regionalen Mächte bereiten sich darauf vor. Peking, Moskau und Seoul umgarnen Kim, der vor kurzem noch ein Ausgestoßener der Weltgemeinschaft war, damit sie geostrategisch wichtige, aber auch lukrative Aufträge erhalten. Nordkorea verfügt über begehrte Vorräte an Bodenschätzen, vor allem an Seltenen Erden.

Südkoreas Präsident Moon Jse-in preschte als Erster vor. Als er Kim Ende April in der entmilitarisierten Zone erstmals traf, überreichte er ihm einen Memorystick. Südkoreanische Medien berichteten, dass darauf Masterpläne zur infrastrukturellen Modernisierung Nordkoreas, etwa zum Bau neuer Bahnnetze oder zu Tourismusprojekten, gespeichert waren. Seoul wolle sie finanzieren. Auch Russlands Präsident Wladimir Putin will Kim so schnell wie möglich treffen, hat ihn zur Teilnahme an seinem Wirtschaftsforum nach Wladiwostok im September ein geladen. Außenminister Sergej Lawrow traf Kim dafür in Pjöngjang. Putin hat seine eigenen Asien-Pazifik-Pläne, will Öl- und Gaspipelines durch Nordkorea bauen und seine Bahnnetze mit Nord- und Südkorea verbinden. China wiederum drängt darauf, die bilaterale Verkehrsstruktur zu vernetzen, Hochgeschwindigkeitszüge zu bauen, über Land Zugang nach Südkorea zu gewinnen und Nordkorea in seine Seidenstraßen-Offensive einzubinden. Seine Grenze zu Nordkorea ist 1.420 Kilometer lang. Über Dandong laufen 70 Prozent des beiderseitigen Handels.

Eine 1950 zerbombte Brücke endet mitten im Fluss.
Foto: Johnny Erling

Pekings Führung will unbedingt die dominante Rolle behalten, die dem Land ihrer Meinung nach historisch zusteht. Schließlich war China neben den USA und Nordkorea einer der drei Unterzeichnerstaaten des im Jahr 1953 beschlossenen Waffenstillstands zwischen Nord- und Südkorea. Peking befürchtet derzeit, außen vor zu bleiben, wenn Trump und Kim in Singapur untereinander die Weichen für einen Friedensvertrag stellen und nur Südkorea einbeziehen. Das chinesische Parteiblatt "Global Times" schimpfte bereits, dass "eine solche Vereinbarung ohne China ungültig ist".

Die Menschen in Dandong sorgen sich derzeit weniger um die verschlungenen Wege der Machtpolitik, für sie zählt allein die Aussicht auf Veränderung vor Ort. Die roten Fahnen der Volksrepublik wehen am frühen Morgen von der Aussichtsplattform am Ende der alten Stahlbrücke über den Yalu-Strom. Von ihr ist nur ein Rumpfstück übrig. 1950 zerbombten sie B-29-Geschwader der USA. Sie reicht noch 400 Meter weit in den Yalu.

Blick hinüber

Die 54-jährige Wang Yun aus Dandong macht hier ihr Geschäft mit zwei Fernrohren. Touristen dürfen um fünf Yuan (70 Cent) das 600 Meter entfernte Ufer genauer in Augenschein nehmen. "Schaut nach oben auf das große Gebäude." Dutzende Bauarbeiter kommen nun ins Bild, die sich vor zwei Kränen zu schaffen machen. Ein neues Hotel wächst dort in die Höhe. Seit dem Treffen von Kim und Chinas Parteivorsitzendem Xi Jinping Ende März werde "da drüben wieder gebaut".

Wang sagt, dass bei schönem Wetter auch Dandonger Bürger kommen und durch ihre Ferngläser schauen, "ob sich etwas tut", ob der große Wandel zwischen Nord- und Südkorea und das bevorstehende Treffen Kims mit Trump auch neue Bewegung an die Dandonger Grenze bringen.

Wenn sie ihr Fernglas auf die nur 60 Meter entfernte zweite Yalu-Brücke richten, können sie sehen, dass wieder mehr Bahn- und Lkw-Transporte über die für den Korea-Handel wichtigste Brücke Chinas rollen. Verschärfte UN-Sanktionen als Antwort auf Nordkoreas Atomaufrüstung, denen sich China anschloss, hatten im Frühjahr den Verkehr fast zum Erliegen gebracht. Nun fahren morgens Kolonnen von Schwerlastern nach Dandong zurück, nachdem sie ihre Fuhren in Nordkorea abgeladen haben – obwohl die UN-Sanktionen unverändert gelten. Dandongs Zollbehörde behauptet steif und fest, dass nichts transportiert werde, was UN-Sanktionen verletze. Der rege Verkehr lässt anderes vermuten.

Erinnerung an chinesische Opfer

Die Geschichte der beiden Brücken ist wieder aktuell. Im November 1950 ließ US-General Douglas MacArthur sie bombardieren, um chinesischen Nachschub an Truppen und Material für Nordkoreas Diktator Kim Il-song zu stoppen, dem Chinas Mao zur Hilfe eilte. Die USA zerstörten die falschen Brücken. Maos Soldaten sickerten heimlich ab Oktober 1950 nach Nordkorea ein – über eine 65 Kilometer östlich von Dandong gelegene Brücke. Die Geheimnisse jener Zeit sind heute enthüllt, auch dass 2,9 Millionen Chinesen als "Freiwillige" in Nordkorea kämpften. Dandong verwahrt Gefallenenlisten von allein 183.108 chinesischen Soldaten – ohne die Opferzahlen unter den zivilen Helfern.

Die zerstörte Brücke ist nicht nur Mahnmal für Chinas Blutzoll, wovon es sein Mitspracherecht darüber ableitet, was immer künftig in Korea geschieht. Die als Denkmal erhaltene Rumpfbrücke erinnert zugleich alle Besucher, dass nie wieder US-Bomber dem Reich der Mitte so nahe kommen dürfen wie 1950. 65 Jahre nach dem Ende des Koreakrieges und einem nach 575 Verhandlungsrunden errungenen Waffenstillstand am 27. Juli 1953 muss der Nachbar ein Pufferstaat bleiben.

Die Wohnungspreise in Dandong sind zuletzt sprunghaft gestiegen.
Foto: Johnny Erling

Es tut sich was in Dandong. Seit Monaten fallen Spekulanten aus allen Teilen Chinas ein, um hier Wohnungen zu kaufen. Die Preise sind seither um 50 Prozent gestiegen. "Die Käufer spekulieren auf Nordkoreas Öffnung, die aus der abgelegenen Grenzflussstadt Dandong ein neues Mittelzentrum Chinas machen wird", schwärmt Immobilienmanagerin Tan Yue. Soeben hat ein reicher Unternehmer aus Ostchina im Luxuswohnprojekt "Mondinsel" 20.000 Quadratmeter um umgerechnet 26 Millionen Euro erworben. Die sieben 33-stöckigen Luxushäuser wurden auf einer aufgeschütteten Insel im Fluss Yalu gebaut – mit direktem Blick auf Nordkorea. Mehr als die Hälfte der 1.147 Etagen- und Penthousewohnungen wurden bereits verkauft, berichtet Sales-Managerin Wang Dan – zu Preisen von umgerechnet 1.400 bis 1.900 Euro pro Quadratmeter. Tendenz weiter steigend.

Regionalplaner und Investoren setzen darauf, dass Nordkorea bald Dandongs dritte Brücke über den Yalu fertigbaut. China hat 300 Millionen Euro investiert, um zehn Kilometer flussabwärts der beiden alten Brücken eine vierspurige neue Überführung zu errichten. Ende 2014 war die Superbrücke fertig, die drei Kilometer lang und 33 Meter breit ist. 20.000 Fahrzeuge pro Tag sollen sie überqueren können. Doch bislang endete sie in nordkoreanischen Maisfeldern. Pjöngjang erfüllte seine Versprechen nicht, die 2010 mit China vereinbarte Brücke mit seinem Straßennetz zu verbinden, ließ sie auflaufen. Über den "Geisterbau nach nirgendwo" spotten die Einheimischen, ebenso wie über die "Geisterstadt" "New City": Gigantische Infrastrukturprojekte und Neubausiedlungen wurden rund um den Bau der dritten Brücke auf Dandonger Seite aus dem Boden gestampft. Sie standen leer, bis jüngst der Immobilienboom einsetzte.

"Singapur City"

Auch Yang Xiaochun erwartet, dass Nordkorea die Brücke nun anschließt. Er steht in der Nähe einer neuen Siedlung am Yalu und lächelt. Im Mai hat sich der 46-Jährige, der aus dem mehr als 1.000 Kilometer entfernten Anhui kommt, hier eine 107 Quadratmeter große Wohnung um 710.000 Yuan (94.000 Euro) gekauft, bereits 40 Prozent teurer als im April. Wenn sich Trump und Kim einigen, werde sein Apartment weiter an Wert gewinnen. Und er sei sicher, dass es ein positiver Gipfel wird. Denn das Hochhaus, in dem er sich gerade noch einkaufen konnte, heißt "Singapur City". Das sei doch ein gutes Omen. (Johnny Erling aus Dandong, 11.6.2018)


DER STANDARD