Ist es möglich, dass die Künstlerin Vivian Maier (1926- 2009) in der Idee vom posthumen Ruhm ihr Glück fand? Ist es denkbar, dass sie der Welt ihre Fotografien gänzlich vorenthalten wollte? Derlei Fragen stellen sich aktuell Besuchern der Wiener Fotogalerie Westlicht.
Zu sehen ist eine Ausstellung mit bemerkenswerter Vorgeschichte: Zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren schoss Maier in den Straßen New Yorks und Chicagos an die 150.000 Bilder – um sie zu Hause in Kisten zu horten. Bis sie 2009 im Alter von 83 Jahren starb, gewährte sie niemandem Einblicke in dieses Schaffen. Ihr Geld verdiente sie als Kindermädchen.

Sensationsfund
Dass wir Maiers Werk heute erleben können, ist einem Coup zu verdanken, wie ihn sich Flohmarktstöberer erträumen dürften. 2007 ersteigerte der Immobilienmakler John Maloof eine Kiste mit Negativen Maiers. Eine Internetrecherche zur Urheberin ergab nichts. Als er einige Bilder online präsentierte, stellte sich jedoch heraus, dass nach seinem Fund die Fotografiegeschichte ergänzt werden musste. Maiers Blicke auf das urbane Leben, ebenbürtig Arbeiten Robert Franks oder Henri Cartier-Bressons, wurden über Nacht berühmt.
Die Ausstellung in der Galerie Westlicht ist zunächst ein vielgestaltiger Nachtrag zur Straßenfotografie, wie sie ab den 1930er-Jahren dank handlicherer Kameras aufblühte. Auf zärtliche, ansonsten übersehene Berührungen zwischen Menschen richtete Maier den Blick, fotografierte aber auch Einsatzkräfte, die sich um einen auf dem Boden Liegenden drängen.

Gespenstergleich
Ins Abstrakte gehende Architekturfotografien werden von Porträts konterkariert. Immer wieder findet sich die Welt der Massenwaren mit Ironie bedacht. Zum Schmunzeln ist etwa das Bild eines Zeitschriftenverkäufers, der inmitten schreiender Magazintitelblätter wegdöst.
Ein untrügliches Gespür für jenen "entscheidenden Augenblick", den Cartier-Bresson zur Essenz der Fotografie erklärte, zeichnet Maiers Arbeiten aus. Ebenso sehr geht der Reiz der Schau aber vom Rätsel aus, das die Fotografin umgibt. Wer ist diese Frau, die so gleichmütig, so distanziert, Tragisches und Komisches gleichermaßen registrierte? Was verraten die Blicke der von ihr Porträtierten über sie? Eine Idee von dieser Frau mit der Kamera vermitteln indes Selbstporträts, die ein Leitmotiv der Schau sind.
An keiner spiegelnden Fläche, so scheint's, konnte Maier vorbeigehen, ohne sich darin zu fotografieren. In Schaufenstern, in Autoseitenspiegeln, auf Gefäßen gewahrt man ihr Spiegelbild. Gespenstergleich taucht sie gar in einem Spiegel auf, den ein Mann soeben auf eine Müllablage hievt. Gelegenheiten, ins – durchwegs ausdruckslose – Gesicht der Künstlerin zu schauen, findet man also reichlich. Aber ob man daraus schlau wird?

Mysterium Maier
Dem Mysterium Maier widmete John Maloof übrigens den Dokumentarfilm Finding Vivian Maier (2013). Er, der als Finder heute auch die Verwertung ihres Werks betreut, interviewte ehemalige Ziehkinder des fotografierenden Kindermädchens, erfuhr etwa, dass sie bisweilen sehr gewaltsam agiert haben soll, Berührungen fürchtete.
Zu pathologisierend fand hingegen Wissenschafterin Pamela Bannos diese Darstellung. Sie warf Maloof Verzerrung zu Marketingzwecken vor und versuchte sich im Buch A Photographer's Life and Afterlife an einer Gegendarstellung, die Maier selbst eine stärkere Stimme geben sollte. Die Scheu, Fotografien preiszugeben, führte Bannos etwa auf die Eltern zurück, die für den Geheimdienst gearbeitet haben sollen.
Dieses G'riß um eine kaum letztgültig zu ergründende Wahrheit hat mit der Ausstellung nur mittelbar zu tun. Es verleiht jenen Blicken ins Gesicht – oder auf den Schatten der Künstlerin, der in vielen Selbstporträts Hauptdarsteller ist – aber fraglos eine weitere aufregende und ziemlich zeitgemäße Dimension. (Roman Gerold, 11.6.2018)
