Fußballchef Gianni Infantino (links) und Russlands Chef Wladimir Putin wirken für den Nachwuchs im Gastgeberland gewiss animierend, aber doch zu spät für diese WM.

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Die Luft in der Sporthalle ist stickig, als die Buben sie betreten. Es ist kurz vor 19 Uhr, und die Halle wurde heute schon von einigen Mannschaften benutzt. Die Kleinen schnappen sich Bälle und jagen wild durch die Gegend. Viktor Fjodorowitsch, der Trainer, hat einige Mühe, die Kinder zu beruhigen. "Ruhe", ruft er. "Schaut erst einmal zu, wie ich es mache, und dann wiederholt ihr."

Eigentlich hat es Viktor Fjodorowitsch im Kreuz, doch für einen Moment scheint sein Leiden vergessen. Überraschend geschwind nimmt der Mittsechziger den Ball auf, tippt ihn mit dem linken Fuß an, macht einen schnellen Ausfallschritt und stoppt ihn sofort mit dem rechten. Antippen, stoppen, antippen, stoppen. Die Kleinen sind sofort dabei. Bei den meisten rutscht das Spielgerät allerdings deutlich weiter als geplant. Die beste Ballkontrolle weist Ljoscha auf, ein sechsjähriger Fan von Spartak Moskau. Doch der Trainer lobt auch den fünfjährigen German. "Schaut euch an, wie klein er ist und wie er doch versucht, alle Übungen richtig nachzumachen", sagt er.

Infrastrukturschub

Seit rund 40 Jahren ist Viktor Fjodorowitsch Nachwuchstrainer. Nicht immer waren die Bedingungen einfach. Einen Vorteil der bevorstehenden Weltmeisterschaft kann er nun am eigenen Leib erfahren: Die Moskauer Sportschule Sokol, wo er angestellt ist, wurde 2013 mit dem Status Olympiareserve versehen und hat vor der WM ein neues Stadion bekommen. Bürgermeister Sergej Sobjanin hat es im vergangenen Jahr persönlich eingeweiht. Nur die Jüngsten spielen noch in der aus sowjetischer Zeit stammenden Trainingshalle.

Russland hat eine Menge Geld in den Aufbau der Infrastruktur investiert. Bei den Ausgaben variieren zwar selbst die offiziellen Zahlen stark, doch die meisten Schätzungen liegen zwischen zwölf und 14 Milliarden Dollar. Neben den zwölf WM-Stadien wurden rund 100 Stadien mit geringerem Fassungsvermögen aufgebaut – jetzt sind es 1900 im Land. Die Zahl der Fußballfelder hat sich in den vergangenen Jahren von 18.000 auf 26.000 erhöht.

Wenige Fußballer

Die Probleme sind dennoch gewaltig. Obwohl Russland fast doppelt so viele Einwohner hat wie Deutschland, gibt es kaum halb so viele Fußballer – 2,7 Millionen. Auch in der Fangunst liegt der Fußball in Russland weit hinter dem Nationalsport Eishockey zurück. Während die Eishallen regelmäßig ausverkauft sind, verirren sich zu den Spielen in der nationalen Premier-Liga im Schnitt gerade einmal 14.000 Zuschauer. Die meisten Klubs sind daher wirtschaftlich unrentabel und hängen am Tropf des Staates oder staatlicher Großkonzerne wie Gazprom.

Viktor Fjodorowitsch hofft, dass die WM zumindest ein bisschen Euphorie entfachen kann. Dabei wird er selbst kein Spiel live sehen. "Leider habe ich keine Karten bekommen und kenne auch keinen, der welche hat." Die Nachfrage nach Tickets ist groß. Mitte April berichtete der Weltverband Fifa über den Absatz von 2,2 Millionen Karten. Natürlich wecken die Spiele der Sbornaja besonderes Interesse bei den Russen. In der Duma, der zweiten Kammer des Parlaments, geistert gar der Vorschlag herum, die Spieltage der Nationalmannschaft für arbeitsfrei zu erklären.

Euphorie

Teamtrainer Stanislaw Tschertschessow weiß um die Bedeutung der WM für den Aufschwung des Fußballs in Russland: "Es ist unsere Aufgabe, diese Euphorie zu entfachen", sagte er dem STANDARD. Doch der ehemalige Torhüter, der sechs Jahre lang für Tirol Innsbruck spielte, ist optimistisch: Die Infrastruktur stehe. Alles sei bereit für eine gesunde Entwicklung des Sports. Gleiches gelte nun zumindest auch für die WM-Städte – und der Zuschauerandrang gebe den Organisatoren recht. Die ersten Testspiele in den neuen Stadien seien selbst bei Zweitligisten ausverkauft gewesen. "In den neuen Stadien musst du dir das Spiel nicht im Regen unter freiem Himmel anschauen, es gibt Unterhaltungsmöglichkeiten für Kinder – es ist ein echter Familienausflug", sagt Tschertschessow. Der Nationaltrainer hofft auf einen Boom.

Die Glanzzeiten der Sbornaja liegen allerdings mehr als 50 Jahre zurück – mit dem Weltklassetorhüter Lew Jaschin gewann die sowjetische Auswahl 1960 den EM-Vorläuferbewerb. Spieler wie Jaschin suchen russische Sportjournalisten in der aktuellen Mannschaft vergeblich. Mangels neuer Stars berief Tschertschessow den 38-jährigen Sergej Ignaschewitsch in den Kader. Für die zumindest auf dem Papier leichte Gruppe mit Saudi-Arabien, Ägypten und Uruguay könnte es reichen. Weiter will Tschertschessow auch nicht schauen.

Strategie 2030

Neue Spieler schnitzen kann er sich ohnehin nicht. Für die aktuelle WM kam die Strategie zur Entwicklung des Fußballs ganz offensichtlich zu spät. Immerhin hat der russische Fußballverband im vergangenen Jahr eine neue "Strategie 2030" aufgelegt, die unter anderem die Nachwuchsstrukturen besser fördern soll. Dann könnten vielleicht auch Ljoscha und German schon mitspielen. Viktor Fjodorowitsch wird zumindest alles dransetzen, ihnen die nötigen Grundlagen zu vermitteln. (Andre Ballin, 12.6.2018)

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