David Misch: "Die Genugtuung für das Erreichte ist eher gering. Viele fallen nach einem Sieg in ein Loch. Man freut sich eher schon darauf, sich das nächste Mal zu beweisen. Das ständige Streben nach Verbesserung steht im Vordergrund. Wenn das Puzzle zusammengesetzt ist, verliert es an Glanz, so hat es Christoph Strasser formuliert. Während die Leute glauben, man schwebt auf Wolke sieben, ist es im Grunde bedeutungslos, der Erfolg verschwindet metaphorisch im Keller."

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STANDARD: Sie haben für Ihr Buch "Intensität – Auf der Jagd nach dem Flow" mit vielen Extremsportlern gesprochen und auch selbst als Aktiver die Szene kennengelernt. Wie extrem ist Extremsport wirklich?

David Misch: Für mich und auch für alle Protagonisten in meinem Buch hat es sich irgendwann nicht mehr extrem angefühlt. Der Begriff ist verhasst und eher eine Marketingfloskel, die man benützen muss, um seine Geschichte zu verkaufen. Ich wollte beleuchten, was man alles erreichen kann im Leben, wenn man sich gut und konsequent auf etwas vorbereitet. Dass man Tauchgänge bis zu 250 Meter ohne Atemgerät schaffen oder 5.000 Kilometer quer durch Amerika fahren kann. Natürlich sind das Dinge, die für den Laien unvorstellbar sind, aber so extrem sind sie nicht.

STANDARD: Vielleicht nicht extrem, aber ganz "normal" wohl auch nicht.

Misch: Man lügt sich schon auch was vor, wenn man zum Beispiel wie Race-Across-America-Sieger Christoph Strasser sagt, dass sich seine Mutter mehr Sorgen um seinen Bruder machen muss, wenn er auf Maturareise fährt, als wenn er das RAAM bestreitet. Nur, das Streben nach intensivem Leben hat nichts mit Unmittelbarkeit zu tun. Ein RAAM besteht aus drei Jahren Vorbereitung, 90.000 Kilometern auf dem Rad, sehr viel unspektakulärer Arbeit, und dann erst kommt der Gipfel. Man fährt ein paar Tage Rad, und es geht einem nurmehr auf die Nerven.

STANDARD: Ähnlich wie bei einer Sucht, von der man nur sehr schwer wegkommt?

Misch: Mit dem klassischen Suchtverhalten hat das eigentlich in vielen Fällen nichts zu tun. Ein Bergsteiger wie Peter Habeler dreht zehnmal um, bis er beim elften Mal auf dem Gipfel eines Achttausenders steht. Er muss also Entscheidungen treffen, die nicht zu einem Suchtverhalten passen. Wenn man so ein prächtiges, erfülltes Leben einmal kennengelernt hat, ist es schwer, wieder davon runterzukommen. Dieser Aspekt ist am ehesten einem Suchtverhalten zuzuordnen. Um als süchtig zu gelten, muss man mehrere Suchtfaktoren erfüllen, bei Sportlern aber ist das nicht in ausreichendem Maße gegeben. Nicht umsonst wird Sport als Therapie eingesetzt.

Der Mount Everest in Nepal. Misch: "Ein Bergsteiger wie Peter Habeler dreht zehnmal um, bis er beim elften Mal auf dem Gipfel eines Achttausenders steht. Er muss also Entscheidungen treffen, die nicht zu einem Suchtverhalten passen."
Foto: APA/ Peter Habeler

STANDARD: Also ist es eher die permanente Suche nach dem Flow?

Misch: So abgedroschen es klingt, aber es trifft es ganz gut. Für mich war es immer eine Art meditativer Zustand, bei dem es nurmehr darum geht, die Bewegung aufrechtzuerhalten, den nächsten Tritt sauber auszuführen, den nächsten Schluck zu trinken. Und man kommt aus dem Gedankenkarussell Familie, Arbeit, Finanzen, Alltagssorgen weg. Man lebt den unmittelbaren Moment und versucht sein Bestes zu tun. Und das ist das beste Mittel, wie man ein RAAM schaffen kann. Wenn man nach 500 Kilometern den ersten Einbruch hat und an die Ziellinie denkt, dann wird man es nicht schaffen, weil die Herausforderung unglaublich groß ist.

STANDARD: Konnten Sie bei ihrem Blick hinter die Kulissen Heldenmythen entlarven?

Misch: Ich habe Habeler gefragt, auf was er in seinem Leben verzichten musste, und er sagte mir, dass er nicht der beste Vater war und heute zu seinen Söhnen nicht den besten Draht hat. Er hat es nicht bereut, aber es hat sein Leben geprägt. Der Erfolg hat Beziehungen gefährdet beziehungsweise zerstört, sprich die Hochglanzperson, der ein Erfolg nach dem anderen gelingt, hat schon auch ihre Schattenseiten. Das soziale Leben wird zurückgestellt. Man hat einen derartigen Drang, das zu machen, dass man irgendwann gar nicht mehr merkt, wie sehr man seine Umgebung damit belastet. Auch ich habe dem alles untergeordnet und auch am Weihnachtstag sechs Stunden trainiert.

STANDARD: Wie erklären Sie sich die Bereitschaft von Extremsportlern, sich den enormen Qualen und hohen Risiken zum Ziele der Selbstverwirklichung auszusetzen?

Misch: Die Qualen werden unverhältnismäßig dargestellt, in Wirklichkeit sind es in etwa 80 Prozent positive Erfahrungen und nur 20 Prozent Qualen. Man nimmt das in Kauf, weil man von dem großen Ziel so eingenommen ist. Apnoe-Tauchgänge wie jene von Herbert Nitsch funktionieren nur, wenn man quasi an nichts denkt, sich wohlbehütet fühlt. Wird nur ein bisserl Energie für Zweifel verschwendet, funktioniert es nicht. Postuliert wird aber ganz etwas anderes: Gefahr, Dunkelheit, Kälte.

STANDARD: Nitsch hat 2012 einen schweren Tauchunfall nicht ohne erhebliche Folgeschäden überstanden, taucht aber nach mühevoller Reha wieder tief ab. Nachvollziehbar?

Misch: Warum soll er sich von Leuten etwas einflüstern lassen, die nachweislich überhaupt keine Ahnung von der Materie haben? Er vertraut auf einzelne Mediziner, die sich auskennen, auf Kollegen, auf sich. Eine gesunde Skepsis gehört aber dazu. Es gibt ganz viele Motivationen, die im Hintergrund stehen, die nicht unbedingt nur positiv sind. Aber mir ist es auch darum gegangen, mit den Vorurteilen aufzuräumen. Nachdem Nitsch verunglückt ist, ist es in den Foren hoch hergegangen. Es sei verantwortungslos, was er macht, dass er am besten gleich unten bleiben hätte sollen und so weiter. Wenn man sich aber mit ihm unterhält, dann sieht man, dass eine Verkettung von ganz ungünstigen Umständen dazu geführt hat, dass das Unglück passieren konnte. Aber er ist mit Sicherheit keiner, der Todessehnsucht hatte.

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Der ungarische Wingsuit-Flieger Viktor Kovács verunglückte 2013 in China tödlich. Misch: "Athleten bestätigen, dass Red Bull nicht groß auf die Risikotube drückt. Eher das Gegenteil ist der Fall, als Basejumper oder Wingsuit-Flieger geht man von Haus aus ein gewisses Risiko ein. Aber natürlich gibt es einen gewissen Druck, spukt es im Kopf herum, dass man mit Erfolgsprämien sein Leben finanziert."
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STANDARD: Welche Rolle spielen Sponsoren wie Red Bull, die Sportler durch perfektes Marketing zu Helden hochstilisieren, in Sachen Motivation?

Misch: Der Typus des Extremsportlers verändert sich. Das Storytelling versus dieser total extreme Risikoaspekt wird immer wichtiger. Was aus Unternehmenssicht ja Sinn macht, weil es keine gute Werbung sein kann, wenn bei Dokumentationen transportiert wird, dass Red Bull die Leute in den Tod schickt. Man darf bei dieser Diskussion nicht außer Acht lassen, was Red Bull dem Sport Positives bringt. Athleten bestätigen, dass Red Bull nicht groß auf die Risikotube drückt. Eher das Gegenteil ist der Fall, als Basejumper oder Wingsuit-Flieger geht man von Haus aus ein gewisses Risiko ein. Es wird offensichtlich von der Marketingabteilung evaluiert, wie sehr ein Projekt schaden könnte. Aber natürlich gibt es einen gewissen Druck, spukt es im Kopf herum, dass man mit Erfolgsprämien sein Leben finanziert.

STANDARD: Welche Parallelen zwischen den einzelnen Disziplinen haben Sie im Zuge Ihrer Recherchen ausgemacht?

Misch: Eine lustige Parallele ist, dass alle das Tun der anderen viel extremer finden als das, was sie selbst machen. Auch Stolz ist etwas, was bei allen eher negativ besetzt ist, die Genugtuung für das Erreichte ist eher gering. Viele fallen nach einem Sieg in ein Loch. Man freut sich eher schon darauf, sich das nächste Mal zu beweisen. Das ständige Streben nach Verbesserung steht im Vordergrund. Wenn das Puzzle zusammengesetzt ist, verliert es an Glanz, so hat es Strasser formuliert. Während die Leute glauben, man schwebt auf Wolke sieben, ist es im Grunde bedeutungslos, der Erfolg verschwindet metaphorisch im Keller. Alle sind froh, dieses Leben führen zu können, und hoffen, es möglichst lange machen zu können.

STANDARD: Vergleichen wir das Früher mit dem Jetzt: Wo liegen die Unterschiede in puncto Risiko, das einerseits Peter Habeler und Reinhold Messner einst bei der Erstbesteigung des Everest ohne Flaschensauerstoff eingingen und andererseits Hansjörg Auer eingeht, der mit seinen spektakulären Free-Solo-Begehungen immer wieder für Aufsehen sorgt.

Misch: Heute ist alles generalstabsmäßig geplant, man weiß, wann das Schönwetterfenster kommt, außerdem hat sich die Ausrüstung enorm verbessert. Das technische Risiko ist bei Hansjörg Auer wesentlich größer, das hat Habeler bestätigt. Auer sieht das nicht ganz so. Er macht etwas nur, wenn er fühlt, dass er es kann. Die 8.000er-Expeditionen waren extrem, aber es gab auch Raum für Spielerisches. Die Zeit im Basislager war nicht geprägt von Facebook, Twitter und Erfolgsdruck, das war einfach eine gute Zeit. Früher habe es laut Habeler außerdem nicht so viel gebraucht, um in die Zeitung zu kommen. Während Auer auch Dinge aus Leidenschaft macht, die die Menschheit nicht mitkriegen, gibt es heute gute Alpinisten, die nichts machen würden, was sich nicht für einen Facebook-Eintrag eignet. Das Leben ist im Vergleich zu damals in mancher Hinsicht rauer geworden.

STANDARD: Braucht es spezielle psychische und physische Voraussetzungen, um ein Extremsportler zu werden?

Misch: Man sollte ein gewisses Talent mitbringen, grundsätzlich gesund sein, aber man muss kein physischer Übermensch sein. Für die psychischen Voraussetzungen ist es erforderlich, dass man hartnäckig ist, einen gewissen Spaß am Scheitern, Wiederaufstehen und an scheinbar unmöglichen Herausforderungen hat. Man sollte sich gern vor knifflige Situationen stellen und bereit sein, diese abzuarbeiten.

STANDARD: Spielen persönliche Entwicklung und Sozialisierung eine Rolle?

Misch: Nicht unbedingt, Extremsportler kommen sowohl aus supertollen Familien als auch aus zerrütteten. Soweit ich das beurteilen kann, sind viele dabei, die kein Trigger-Erlebnis in der Kindheit hatten, oder zumindest könnte man es bei vielen nicht vermuten.

Christoph Strasser beim Race Across America (RAAM). Misch: "Die Müdigkeit, wenn man im Halbdelirium unterwegs ist, katalysiert die Emotionen, ein Sonnenaufgang ist besonders intensiv, einprägsam, man fährt teilweise mit Tränen in den Augen."
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STANDARD: Sie selbst nahmen 2013 am RAAM teil, waren Rookie of the Year. Ihre Erfahrungen als Teilnehmer?

Misch: Meine Erfahrungen waren sehr positiv, abgesehen von den Lungenproblemen in den Rocky Mountains, wo das Unternehmen auch kippen hätte können, oder den Schmerzen an den Fußballen, die waren die Hölle. Die Müdigkeit, wenn man im Halbdelirium unterwegs ist, katalysiert die Emotionen, ein Sonnenaufgang ist besonders intensiv, einprägsam, man fährt teilweise mit Tränen in den Augen. Ich denke noch immer zurück. Das waren ganz intensive Erlebnisse. Das Team lacht und weint mit dir, im Idealfall kommt man als relativ zusammengeschweißtes Team zurück.

STANDARD: Und wie erlebten Sie das RAAM als Betreuer von Severin Zotter, den Sie 2015 zum Sieg begleiten durften?

Misch: Das war genauso schön und intensiv. Zehn Leute, egal ob Arzt oder Physiotherapeut, nehmen sich einen Monat Urlaub, stellen ihre eigenen Bedürfnisse eine Woche zurück, um den Erfolg eines Einzelnen zu ermöglichen. Nicht zu unterschätzen ist, dass man dauernd Party machen muss, durchgehend vom Beifahrersitz aus mit dem Athleten kommuniziert, um ihn wachzuhalten. Man darf ja nicht zeigen, dass es einen manchmal auch nervt, muss immer locker bleiben.

STANDARD: Kam der Moment, in dem Sie das Rad am liebsten in den Straßengraben geworfen hätten?

Misch: Ja, aber das war eher aus Sicherheitsgründen, weil ich mehrmals kritische Situationen zu überstehen hatte, einmal wurde ich touchiert, einmal kam mir ein Lkw sehr nahe. Das waren Momente, vor allem im letzten Renndrittel, in denen ich mich nicht mehr ganz so wohl fühlte. In Summe aber war alles viel weniger schlimm als erwartet. Das lag aber sicher auch an der guten Vorbereitung.

Misch über Wolfgang Fasching: "Von der Einstellung her ist Fasching ein gutes Beispiel, weil er sehr hart dran arbeiten musste, dass er trotz schlechter Schulbildung der selbstsichere, eloquente Mensch wurde, der er heute mit 50 nicht nur als Vortragender vor tausenden Menschen ist. Er sagte, wenn man viel lernt, ist Fortschritt nicht zu vermeiden."
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STANDARD: Welcher der zahlreichen Sportler, die Sie interviewt haben, hat Sie am meisten beeindruckt?

Misch: Das ist schwierig, weil mich jeder Einzelne beeindruckt hat, gerade die, die nicht im Ausdauersport tätig sind, wie Nitsch und Habeler. Aber von der Einstellung her ist Wolfgang Fasching ein gutes Beispiel, weil er sehr hart dran arbeiten musste, dass er trotz schlechter Schulbildung der selbstsichere, eloquente Mensch wurde, der er heute mit 50 nicht nur als Vortragender vor tausenden Menschen ist. Er sagte, wenn man viel lernt, ist Fortschritt nicht zu vermeiden. Das beherzigt er seit 30 Jahren. Früher sagten ihm die Lehrer, dass er nie etwas erreichen wird.

STANDARD: Haben Sie eine Antwort gefunden, warum es einerseits Menschen gibt, die mit einem "durchschnittlichen Leben" vollauf glücklich sind, während andere immer weiter ihre Grenzen austesten und verschieben wollen?

Misch: Nein, habe ich leider noch nicht gefunden. Aber es muss jeder für sich beurteilen, ob er glücklich ist mit seinem Leben. Wenn jemand eine Serie schaut, ein Musikinstrument spielt, eine Sprache lernt oder ein Buch liest, dann passt das ja auch. Ich bin der Meinung, dass man die Lust am Lernen nicht verlieren soll, sich wie auch immer weiterentwickeln soll, es muss ja nicht unbedingt Sport sein. Aber bei allen negativen Aspekten glaube ich, dass die Sportler sehr gute Vorbilder sind und dass man diese überzeichnete Werbung von Höchstleistungen vielleicht sogar braucht, um es selbst weiter zu bringen. Ich muss nicht Dominic Thiem werden, aber ich kann vielleicht wieder einmal laufen gehen oder etwas für meinen Geist tun.

STANDARD: Ihr Resümee in Ihrem Buch ist eine Frage: Ist es das wert? Wie würden Sie diese Frage beantworten?

Misch: Für mich ist es ganz klar, mir war es das bei allem negativen Input wert. Ich habe den richtigen Absprung geschafft. Man kann natürlich einen Unfall haben, dann war es das vielleicht nicht wert, aber ansonsten sind alle glückliche, stabile Persönlichkeiten, von denen man sich etwas abschauen kann, daher würde ich sagen, dass all diese Herausforderungen auch für unsere Gesellschaft wertvoll sind. (Thomas Hirner, 19.6.2018)