Kraftvoll zuzubeißen war wohl auch schon in der Steinzeit erstrebenswert. Zähne, Knochen und Zahnstein von ausgegrabenen Skeletten geben Einblicke in Ernährungsgewohnheiten der Paläoamerikaner.

Foto: Sabine Eggers

Die Muschelhaufen sind zum Teil mehr als dreißig Meter hoch.

Foto: Commons Wiki / Thigruner

Man könnte sie für Dünen halten, doch diese Erhebungen sind weder aus Sand noch von der Natur geformt. Ihre Zahl geht in die Tausende, so manche dürfte unentdeckt sein und längst vom Meer überspült. Die meisten dieser Hügel liegen entlang der brasilianischen Küste verstreut, besonders im Südosten, wo sie als typische Landmarken gelten.

Kein Wunder: "Diese Muschelhaufen sind zum Teil mehr als dreißig Meter hoch", berichtet die Humanbiologin Sabine Eggers vom Naturhistorischen Museum in Wien. In der Regionalsprache werden die Ansammlungen Sambaquis genannt. Sie bestehen vor allem aus Molluskenschalen, enthalten aber auch Fischgerippe, Tierknochen, Steinwerkzeuge – und menschliche Skelette. Erstklassige Fundstätten für Archäologen und andere Fachleute.

Sambaquis gehören zu den ältesten Hinterlassenschaften südamerikanischer Ureinwohner. "Früher dachte man, dass diese Leute ihre Toten im Abfall bestatteten", sagt Sabine Eggers. Die Menschen hätten sich vorwiegend von Meeresfrüchten ernährt, deren leere Schalen sich mit der Zeit zu stattlichen Haufen türmten. Ähnliche Deponien gibt es auch an afrikanischen, asiatischen und europäischen Küsten.

Den heutigen Kenntnissen zufolge sind Sambaquis allerdings keine schlichten Müllberge, sondern bewusst errichtete Strukturen, wie Eggers erläutert. Offenbar dienten sie den steinzeitlichen Küstenbewohnern als eine Art Nekropole. Einige dieser Grabhügel werden auf ein Alter von mehr als 10.000 Jahren datiert, die jüngsten Ansammlungen dürften vor rund 1000 Jahren entstanden sein.

Rituelles Grillfest

Sabine Eggers widmet sich schon seit 1998 der Erforschung der Sambaquis, bis 2016 war sie an der Universität São Paulo tätig. Die Beisetzung in den Grabhügeln erfolgte wohl nach einem strukturierten Ablauf, erläutert sie. Die Verstorbenen blieben zunächst an einem Ort verwahrt, wo sie zumindest nicht von Nagetieren angefressen werden konnten. Womöglich lagen sie unter Wasser. Erst nachdem das meiste Fleisch verwest war, transportierte man den Leichnam zu seiner tatsächlichen letzten Ruhestätte – einem Sambaqui.

Dort wurde der Tote zusammengebunden in einer engen Grube auf einem Bett aus frischen Muscheln bestattet. Große Fische kamen als Grabbeigaben hinzu. Die Beerdigung ging vermutlich mit einem rituellen Grillfest einher, meint die Bioarchäologin. Darauf deuten die vielen kleineren, angesengten Fischgräten hin.

Interessanterweise pflegten nicht nur Meeresanwohner solche Bräuche. Im Inland, in der Nähe von Flüssen, wurden ebenfalls Sambaquis gebaut und Menschen darin bestattet. Statt Meeresmuscheln jedoch verwendeten die Errichter Landschnecken der Gattung Megalobulimus. Auch diese Mollusken dürften eine wichtige Nahrungsquelle gewesen sein.

Weitere Details zum Speiseplan der Urbevölkerung hat Eggers, zusammen mit deutschen und US-amerikanischen Kollegen, aus Laboruntersuchungen ermittelt. Als Grundlage dienten ihnen Proben aus den Knochen von "Luzio", einem vor rund 10.000 Jahren verstorbenen Paläoamerikaner. Luzios sterbliche Überreste wurden im Sambaqui von Capelinha im brasilianischen Bundesstaat São Paulo entdeckt. Der Fundort liegt im Flusstal der Ribeira de Iguape, etwa 60 Kilometer von der Atlantikküste entfernt.

Luzios Fußknöchelchen

Verfahrenstechnisch setzte das Expertenteam auf die Isotopenanalyse. Die Wissenschafter entnahmen Material aus Luzios außergewöhnlich gut erhaltenen Fußknöchelchen, extrahierten Kollagen und Apatit – ein Mineral – daraus und schickten diese in den Massenspektrometer.

Dadurch ist es möglich, das Mengenverhältnis zwischen verschiedenen Isotopen – natürlich vorkommenden Varianten bestimmter Atomtypen – festzustellen. Manche davon, wie zum Beispiel das Stickstoff-Isotop 15N, reichern sich über die Nahrungskette an. Je mehr Fleisch eine Person also im Laufe ihres Lebens zu sich nimmt, desto mehr 15N findet sich in ihrem Körper.

Über pflanzliche Ernährung gibt die Methode ebenfalls Auskunft. Fruchttragende Bäume und Knollengewächse weisen geringere Konzentrationen des Kohlenstoff-Isotops 13C auf als tropische Gräser wie Mais. Abgesehen davon hat auch das Eiweiß von Meeresgetier eine charakteristische 13C-Signatur. Diese wiederum lässt sich im Kollagen nachweisen, welches weitgehend aus Proteinen aufgebaut wird.

Die Forscher verglichen Luzios Isotopenwerte mit bereits vorliegenden Daten von Menschen mit bekannten Speiseplänen, darunter Inuit, Maisbauern und moderne Vegetarier. Die Auswertungen wurden in der Fachzeitschrift Plos One veröffentlicht.

Demnach dürfte sich der Paläoamerikaner überwiegend von wildwachsenden Pflanzen und erlegten Landtieren ernährt haben – dem, was der Atlantische Regenwald eben zu bieten hatte. Süßwasserfisch aß er anscheinend nur wenig.

Womöglich war der Fischfang in den nahegelegen Flüssen nicht besonders ertragreich, meint Eggers. Luzios tägliche Kost unterschied sich somit sehr stark von jener der Küstenbewohner. Trotzdem muss er zumindest indirekt mit ihnen in Kontakt gestanden haben. In seinem Grab wurden Haifischzähne gefunden.

Fischsüppchen statt Babybrei

Wie die Meeresanrainer ihren Nachwuchs ernährten, haben Eggers und zwei weitere Experten im Rahmen einer neuen Studie isotopenanalytisch untersucht. Das Probenmaterial stammt aus Jabuticabeira II, einem monumental großen Sambaqui mit bisher 204 entdeckten Gräbern, der in der Nähe einer Lagune liegt.

Aus insgesamt sechzig Skeletten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen entnahmen die Wissenschafter wieder Kollagen und Apatit. Diesmal lieferten die Analysen auch Aufschluss über das Stillen von Säuglingen. Offenbar bekamen die meisten Babys die ersten sechs Monate ausschließlich Muttermilch und dann die erste Beikost – ähnlich wie heute in den meisten Kulturen.

Allerdings setzte man den Kleinsten wohl kein Getreide vor, wie Sabine Eggers erläutert. "Die Kinder haben keine Breichen gegessen, sondern eher Fischsüppchen." Vollständig abgestillt wurde im Alter von durchschnittlich 2,3 Jahren.

Die Daten, die demnächst im Fachmagazin Journal of Archaeological Science veröffentlicht werden, liefern zudem keine Hinweise auf die Bevorzugung von Buben oder Mädchen. Beide Geschlechter bekamen etwa die gleichen Mengen an Proteinen.

Das gute Nahrungsangebot an der Küste ermöglichte wahrscheinlich eine relativ hohe Bevölkerungsdichte, erklärt Eggers abschließend. Es gebe sogar Hinweise auf eine mögliche Zuwanderung aus Amazonien im Inland. Diese Frage sollen zukünftige Analysen klären. (Kurt de Swaaf, 17.6.2018)