Die ersten Wellen schwappen über den Uferrand und wälzen sich über den aufgeweichten Boden. Sie ziehen sich an den Baumstämmen empor, übersteigen den aufgeschütteten Damm und bedecken Felder, Straßen und Häuser. Aus der Donau ist ein See geworden, von der einstigen Siedlung zeugen nur noch die rotbraunen Dächer und der spitze Turm der kleinen Aukapelle. "Man kann sich des heut gar net mehr vorstellen", sagt Ernst Vösenhuber. Mit den Fingern blättert er durch das Fotoalbum, lässt 16 Jahre alte Erinnerungen vorbeiziehen.

Damals war Vösenhuber Bürgermeister der kleinen Gemeinde Strengberg in Niederösterreich. Das Jahr 2002 prägte sich in die Geschichte des Ortes ein und ist auf Markierungen in Mauern und Fotoalben und Büchern verewigt. Für Vösenhuber war es die größte Herausforderung seiner Laufbahn: als das Jahrhunderthochwasser eine ganze Siedlung vertrieb.

Straßen laufen ins Leere

Vösenhuber steigt in seinen Wagen und fährt über die schmale Straße, die fast kerzengerade hinunter zur Donau führt. Auf der Mitte der letzten Anhöhe bleibt er stehen. "Bis hierher ist das Wasser gestanden" – mehr als zwei Meter war es hoch. Als das Wasser zurückwich, gingen die Bewohner ebenso: 55 Familien, die ihre Häuser in dem Gebiet aufgaben. Bis auf die kleine Aukapelle ist von der Siedlung nichts mehr übrig. Statt Kinderschreien und Autoverkehr hat sich über die Ebene eine beständige Ruhe gelegt. Zwischen den Weizen- und Maisfeldern verlaufen die Straßen ins Leere.

Die Au während der Überschwemmung 2002.
Foto: FF Strengberg
Ein Blick heute in die ruhige Landschaft.

"Hier war der Wirt, unser Jugendtreffpunkt", sagt Vösenhuber und zeigt auf einen Flecken Wiese mit ein paar Bäumen. Der 67-Jährige ist selbst in der Au aufgewachsen und erst nach dem Hochwasser weggesiedelt. Wo früher sein Familienhaus und der Hof standen, wächst jetzt der Weizen, er selbst bearbeitet das Feld jedes Jahr mit Traktor und Pflug.

Immer wieder Überschwemmungen

Der Strengberger Au ist das Hochwasser beinahe so vertraut wie die wechselnden Jahreszeiten. "Um ein Wasser soll man nicht beten", sagen die Bewohner im Ort. In regelmäßigen Abständen kam es in dem Gebiet zu Überschwemmungen – als Vösenhuber ein Kind war, stand das Wasser teilweise bis zu drei Wochen lang im Haus, erinnert er sich. Als in den 1960er-Jahren das Kraftwerk Wallsee-Mitterkirchen an der Donau gebaut wurde, rechneten viele Bewohner mit einer Verbesserung und weniger Überschwemmungen. Denn mit dem Kraftwerk kam auch ein Damm – als aufgeschütteter Erdrücken trennt er heute die Felder von den Auwäldern.

Ernst Vösenhuber neben dem Feld, auf dem früher sein Haus stand.
Foto: Jakob Pallinger

Allerdings stellte sich bald heraus, dass der Damm bei weitem nicht ausreichte, um die Region vor weiteren Hochwassern zu schützen. Stattdessen kam es zwar seltener zu Überschwemmungen, diese fielen dafür umso intensiver aus und kamen schneller, erinnert sich Karl Hammermüller, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr Strengberg.

Tiere evakuieren

Das Wasser behielt seinen Schrecken und bestimmte die Herausforderungen. Deshalb standen für jedes Szenario genaue Einsatzpläne bereit, sagt Hammermüller. Auf Listen wurde dokumentiert, wie viele Tiere wo untergebracht sind und wie diese im Fall eines Hochwassers am schnellsten abzutransportieren sind.

An die Tage der Jahrhundertüberschwemmung rund um den 12. August 2002 erinnert sich Hammermüller noch genau. "Wir haben die gesamte Au evakuiert. Trotzdem wollten nicht alle sofort ihre Häuser verlassen. Eine Familie ist in der Nacht aufs Dach ihres Hauses geklettert, als das Wasser immer weiter angestiegen war." Insgesamt waren 700 Feuerwehrmänner und Bundesheersoldaten eine Woche lang im Einsatz, manche kamen gar aus Tirol angereist.

Das Hochwasser 2002 überschwemmte nicht nur die Strengberger Au, sondern auch andere Teile Ober- und Niederösterreichs.
bgbtvlokal
Immer noch zeigt die Markierung an der Aukapelle den Wasserstand des Hochwassers an.
Foto: Jakob Pallinger

Spätestens nach 2002 war den meisten Bewohnern klar, dass sich ein Leben in der Au kaum noch rechnet. Schon zuvor hatte ihnen die Gemeinde das Angebot gemacht, das Haus für 80 Prozent des geschätzten Zeitwerts aufzugeben und dem Erdboden gleichzumachen. Die Mittel für die Förderung kamen von Bund und dem Land Niederösterreich. War das Angebot davor nur von wenigen angenommen worden, schien es für die meisten nach der Katastrophe äußerst attraktiv.

Die "Aussiedler" von Strengberg

Von den 60 Häusern in der Au wurde der Großteil abgerissen, ihre Bewohner wurden zu "Aussiedlern", wie die Strengberger heute sagen. Weit weg hat es die meisten nicht verschlagen. Gleich über dem Hügel neben der Au stehen heute die modernen und adrett gestrichenen Häuser, wie Könige thronen sie über der Ebene. Auch in Thürnbuch ist eine neue Siedlung entstanden, viele der ehemaligen Nachbarn sind auch dort wieder zu Nachbarn geworden.

Die größten Hochwasserereignisse an der Donau seit 1820.
Foto: Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus, hydrographische Analyse, 2014

"Es war idyllisch und ruhig in der Au, aber es war auch richtig auszusiedeln", sagt Katharina Spreitz. Sie steht in dem Wohnzimmer ihres Elternhauses in der Au, rund um sie liegen alte Schüsseln, Körbe, Uhren und Spiegel – Objekte, die nach dem Umzug noch übriggeblieben sind und von denen sich Spreitz nicht trennen kann. Auch sie ist nach dem Hochwasser "hinauf" gezogen, jetzt räumt die 51-Jährige zusammen mit ihrem Sohn das Elternhaus leer. Der Fußboden ist an vielen Enden bereits aufgerissen, von den Wänden bröckelt der Zement – spätestens im Sommer soll das Haus abgerissen sein, sagt Spreitz.

Katharina Spreitz räumt in ihrem Elternhaus vor dem Abriss aus.

Einige wollen nicht gehen

Aber nicht alle Bewohner wollten sich von ihrer Heimat trennen, immer noch sind zwei Häuser in der Au bewohnt. In einem davon lebt Gerhard Puffer, nur wenige Gehminuten entfernt von Damm und Donau. "Bei Feuer kannst du dein Haus wegreißen, bei Wasser kannst es noch stehen lassen", sagt der 61-Jährige. Computer, Küche und wichtige Dokumente stehen zur Vorbeugung im ersten Stock, den Rest könne er bei Bedarf schnell nach oben schaffen. Seit 1997 wohnt Puffer in der Au, das Geld, das er für die Aussiedlung bekommen hätte, war ihm zu wenig, sagt er.

Und er bereut seine Entscheidung nicht. Denn die Au sei für ihn quasi zu einem großen Park geworden – ohne störende Nachbarn, ohne lästige Neubauten und ohne lauten Straßenlärm. "Für mich ist das die totale Freiheit", sagt er.

Ungefähr alle elf Jahre ist in der Au mit einem Hochwasser zu rechnen, Puffer kontrolliert dann regelmäßig den Pegelstand online. Angst vor dem Wasser habe er nicht. "Du musst das so sehen: Du hast elf Jahre lang die volle Natur. Dann musst du eben eine Woche durchdrücken." (Jakob Pallinger, 22.6.2018)