"Es gibt tausende Gründe, Flüchtlinge willkommen zu heißen. Welchen habt ihr?" Diesen Aufruf projizierte Amnesty International auf das Gebäude der französischen Nationalversammlung.

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Im Kampf gegen illiberale Kräfte wäre eine Abschottung vor Migranten der falsche Weg, sagen Gegner einer "Festung Europa".

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Der Befund ist radikal, die Idee ist interessant. Zuerst muss Europa zur Festung werden, damit Toleranz, Liberalismus und Vielfalt wieder eine Chance bekommt, schreibt Kollege Eric Frey in seinem Plädoyer für ein Europa mit geschlossenen Außengrenzen. Denn die liberale Asylpolitik habe dazu geführt, dass die rechten und illiberalen Kräfte die Hoheit im Diskurs erringen konnten. Ohne das Reizthema Migration und Asyl gäbe es keinen Brexit, keinen Donald Trump im Weißen Haus, keine AfD im deutschen Bundestag und keine FPÖ in der österreichischen Bundesregierung.

Müssen wir also zuerst Mauern hochziehen, das Mittelmeer abriegeln, Auffanglager weitab der europäischen Küsten einrichten, um zu einem moderaten Weg in der Politik zurückfinden zu können? Das mag sein. Doch gute Gründe sprechen dafür, dass die Preisgabe liberaler Prinzipien und Haltungen Europa noch weiter in die Hände von Nationalisten und Populisten treibt.

Rechte haben Diskurs gekapert

Dem Gedankengang, Europa könnte an einer Festung heilen, liegt ein Widerspruch zugrunde. Ohne die Flüchtlingskrise 2015, die Bilder von den offenen Grenzen damals und den zehntausenden herumirrenden Menschen, hätten die Rechten den Diskurs nicht so erfolgreich kapern können: Das ist unbestritten. Aber schwächt man die Illiberalen, indem man ihren Rezepten folgt? Dafür gibt es keinen Beleg. Im Gegenteil. Sie haben keinen Grund, ihr politisches Hauptargument, den Kampf gegen Einwanderung, aufzugeben. Politische Realitäten kümmern sie dabei nur bedingt.

Gut belegen lässt sich das am Beispiel Viktor Orbáns. Der ungarische Ministerpräsident hat das Thema Migration früh für sich entdeckt und 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise mit dem Versprechen gepunktet, die Grenzen des Landes dichtzumachen.

Ungarn nahm im Vorjahr 1.290 Flüchtlinge auf

Seither wurde das Land an der Südgrenze umzäunt, wo das Militär patrouilliert. Mit Erfolg. Im vergangenen Jahr nahm Ungarn laut Angaben des Innenministeriums gerade einmal 1.290 Flüchtlinge auf – bei immerhin rund zehn Millionen Einwohnern. Wurde die liberale Gesellschaft damit gerettet oder gestärkt? Weder noch.

Orbáns Trumpf im Wahlkampf 2018 waren erneut die Ausländer, erneut die angeblich grenzenlose Einwanderung. Er erschuf dabei einfach neue Abwandlungen des alten Themas, wie den angeblichen Masterplan des Investors George Soros, der hinter der Fluchtbewegung stecken soll. Sogar wenn die Festung Europa gebaut ist und kein Migrant und Flüchtling mehr durchkommt: Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass die Parteien, die ihren Erfolg diesem einen Thema zu verdanken haben, die Agenda wechseln? Natürlich nicht. Selbst wenn die Festung steht, wird weiter mobilgemacht. Italiens Innenminister Matteo Salvini lieferte dafür vor kurzem einen Vorgeschmack mit seinem Plan, die Roma in Italien zählen zu lassen.

Gefährdete Fundamente

Achtsamkeit ist für Liberale auch im Umgang mit rechtlichen Fundamenten geboten. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist aus den Lehren des Zweiten Weltkrieges entstanden. Keiner ist naiv – die Herausforderungen der Flüchtlingsbewegungen heute lassen sich natürlich nicht mit einem Verweis auf die Konvention lösen. Aber die Kernthese des Regelwerks bleibt, Menschen in Not zu helfen, die um ihr Leben fürchten müssen.

Dem australischen Modell zu folgen, das aktuell viele Politiker in Europa propagieren, hieße, den Weg nach Europa für Asylsuchende de facto vollständig zu versperren: Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, würden dann in Lager in Albanien oder Nordafrika gebracht werden. EU-Recht gilt dort nicht. Wer kontrolliert, wie dort mit den Menschen verfahren wird? Wie laufen faire Asylverfahren dort ab? Schon jetzt funktioniert die Umverteilung von Asylwerbern in Europa gar nicht. Es ist naheliegend, dass sich daran nichts ändern wird, wie sich auch im Vorfeld des Flüchtlingsgipfels am Sonntag in Brüssel gezeigt hat. Kein europäischer Staat würde also Menschen aus den Asylzentren aufnehmen. Wie es dann zugehen kann, zeigen die australischen Aufnahmezentren, wo Menschen Jahre im Nirgendwo vor sich hin vegetieren.

Grausame Bilder als Abschreckung

Aber Ziel der Festung Europa ist ja, dafür zu sorgen, dass sich von vornherein weniger Menschen auf die gefährliche Reise machen. Diese Abschreckung funktioniert nicht ohne grausame Bilder. Nur entstehen sie dann weit weg, sodass keiner so genau hinsehen kann.

Im Gegenzug zur Abriegelung wird gern Hilfe vor Ort in Aussicht gestellt. Bis dato fallen die Mittel dafür gering aus. Was es gibt, ist Entwicklungshilfe, meist in bescheidenem Umfang, von einem Marshallplan für Afrika, von wirklichen Investitionen auf dem Kontinent, gibt es keine Spur.

Wer die liberale Demokratie retten will, indem er eine Festung baut, bekämpft in Wahrheit die Symptome einer Krise und nicht ihre Ursachen. Die Migrationswelle trifft Europa zu einem Zeitpunkt, in dem sich der Kontinent in einem wirtschaftlichen Umbruch befindet. Digitalisierung und Automatisierung greifen um sich, der globale Wettbewerb ist härter geworden, Schwellenländer wie China erobern rasant Marktanteile. Vor diesem Hintergrund platzte dann noch die Eurokrise: Sie führt in Teilen Europas zu Rekordarbeitslosigkeit und harten sozialpolitischen Einschnitten. Die Einkommenskluft innerhalb der Industrieländer wächst zudem. Dieser Mix ist es, der gesellschaftliche Abstiegsängste in Europa so befeuert.

Jugendarbeitslosigkeit

Ausgerechnet Italien, das Land im Zentrum der Flüchtlingsbewegung, kämpft am härtesten mit diesen Umwälzungen: Jeder Dritte unter 25 ist arbeitslos, die Einkommen stagnieren seit zwei Jahrzehnten.

Wer die illiberalen Kräfte schwächen will, die das sinkende Vertrauen ins System ausschlachten, muss also genau in diesen entscheidenden Fragen Lösungen anbieten. Das ist kompliziert, etablierte Parteien tun sich entsprechend schwer, Antworten zu finden. Umso leichter ist es in dieser Gemengelage, Migranten zu Feindbildern zu machen.

Das Prinzip des Schattenboxens funktioniert aber nicht nur in West-, sondern auch in Osteuropa. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev argumentiert schlüssig, dass nicht Ein-, sondern Auswanderung heute zu den größten Problemen von Ungarn, Polen, Rumänien und anderen Staaten in der Region gehört. Millionen junger gut ausgebildeter Menschen, Krankenschwestern und Mechaniker, haben die Länder verlassen. Daher rührt in Wahrheit die Angst vor einem Austausch der Bevölkerung. Auch hier gibt es keine schnellen und simplen Lösungen.

Einwanderung bringt auch Probleme

Natürlich darf trotzdem niemand blauäugig sein. Einwanderung bringt Probleme mit sich. Da kommen Menschen mit teilweise schlechter Ausbildung. Nicht alle werden Arbeit finden, nicht alle werden sich integrieren. Es kommen Menschen, auch solche, die Einstellungen mitbringen, die mit jenen einer liberalen Gesellschaft nicht zusammenpassen: angefangen bei der Gleichstellung von Mann und Frau bis hin zu antisemitischen Vorurteilen und Judenhass. Dem muss sich eine liberale Gesellschaft stellen und darf keine falsche Toleranz zeigen, sonst wird sie von innen ausgehöhlt. Strategien dagegen, die es wert sind, ausprobiert zu werden, gibt es. (Peter Mayr, András Szigetvari, 23.6.2018)