Hinter der Netflix-Serie mit dem unverfänglichen Titel "Wild Wild Country" verbirgt sich nicht etwa eine neue US-Westernserie, sondern eine sehr aufwendig gestaltete Dokumentation über eine der bekanntesten Episoden in jeder Diskussion zum Thema "Sekte": die Vorkommnisse rund um das Amerika-Experiment der Gemeinschaft um einen religiösen Führer, der sich selbst als Bhagwan, Rajneesh und später Osho bezeichnete. Dieses Experiment geriet zu einem veritablen Desaster und fand seinen Höhepunkt in einem Bioterroranschlag mit Salmonellen, der auf Einwohner eines Dorfes im US-amerikanischen Bundesstaat Oregon ausgeführt wurde.

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Ein charismatischer Guru

Dabei begann alles ganz anders: Bhagwan zählt zweifellos zu den markanteren Figuren einer globalen Religionsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er repräsentierte geradezu idealtypisch den indischen "Guru", der eine immer größere Gemeinschaft um sich scharte und mit seinem zum Teil bewusst provokanten Verhalten äußerst kontroversiell wahrgenommen wurde.

Chandra Mohan Jain, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, wurde 1931 in eine Jain-Familie geboren und begann ab den ausgehenden 1960er-Jahren mit ausgedehnten Vortragsreisen in Indien eine immer größer werdende Zahl von Anhängern um sich zu sammeln. Sie waren offensichtlich angetan von seinen unkonventionellen Lehren, die aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetzt waren und selbst für indische Verhältnisse, wo Religionsgeschichte an sich um vieles bunter und vielfältiger ist, einen speziellen Status hatten.

Bekannter Teil seiner Lehre wurde ab 1970 vor allem eine sehr spezielle Form einer rituellen Gruppensitzung, die als "Dynamische Meditation" bezeichnet wurde. Sie vereinte Elemente aus indischer religiöser Tradition, war aber mehr noch von westlichen Konzepten einer Persönlichkeitstherapie und -entwicklung inspiriert, wie insbesondere der Charakterlehre eines Wilhelm Reich oder Konzepte der "sexuellen Revolution" ab den 1960er-Jahren. Zentrales Motiv und Ziel war eine Art psycho-physischer "Befreiung" jedes Menschen, die insbesondere auch den Bereich der Sexualität umfasste – und damit weit weg war von den prinzipiell eher asketischen Meditationstraditionen Indiens. Die Sitzungen waren geprägt von den namensgebenden "dynamischen" Elementen, zumeist ritualisiertes Hüpfen, heftiges Atmen und gegenseitiges Umarmen. Dass es dabei zu problematischen Vorkommnissen kam, die von den zuweilen überforderten Gruppenleitern nur schwer kontrolliert werden konnten, war früh schon Gegenstand der Kontroverse.

Rajneesh hatte mehrere tausend Anhänger.
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Rajneesh im Kreise seiner Anhänger
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"Holy Madman"

Bhagwan wurde so früh als "Sex-Guru" bekannt und erreichte weit über den indischen Raum hinaus Menschen, die sich für seine Lehren zu interessieren begannen. Die Hippie- Bewegung, die als große Protestbewegung gegen die erstarrte Nachkriegsgesellschaft US-Amerikas und ihre eingrenzenden Konventionen verstanden werden kann und für sich entgrenzende Erfahrungen in allen erdenklichen Varianten suchte, fand in Bhagwan einen ihrer Lehrer.

Seine Rolle spielte er zudem meisterhaft auch mit einer Reihe von weiteren unkonventionellen Details. Zum einen verwendete Bhagwan oft bewusst eine sehr provokative Sprache mit Kraftausdrücken und vermeintlich unpassenden Aussagen, die Aufsehen erregen sollte. Das kann man gut mit der Vorstellung des "holy madman" verbinden, wie man sie aus vielen Religionen kennt. Religiöse Lehrer legen zuweilen transgressives Verhalten an den Tag, zum einen um die Grenzen auszuloten, zum anderen um ihre besonders hohe spirituelle Stufe – gleichsam über den Konventionen stehend – zu unterstreichen. Vielfach spielt hier aber wohl auch die blanke Lust an der Provokation eine Rolle.

Bekannt wurde Bhagwan zudem für seinen offen zur Schau getragenen Reichtum. Neben den aufwendig gestalteten Fantasiekostümen und dem massiven Goldschmuck, war es vor allem die Existenz einer riesigen Flotte an Limousinen, die Aufsehen erregte. Neben dem schon genannten "holy madman"-Zusammenhang wurde dieses seltsame Gebaren auch als karikierende Kritik am Konsumismus und dem amerikanischen Lebensstill interpretiert. Neben dieser eher wohlwollenden Interpretation gibt es jedoch auch Stimmen, die Bhagwan schlichtweg Gier nach Luxus nachsagten. Diese war noch dazu mit einer denkbar zynischen Haltung seinen Mitgliedern gegenüber gepaart, die zumeist ohne Einkommen für ihn arbeiteten. Vergleichbare Phänomene sind übrigens aus vielen ähnlichen Gemeinschaften bekannt und werden immer dann besonders tragisch wahrgenommen, wenn Personen die Gemeinschaft verlassen und dann buchstäblich vor dem existentiellen Nichts stehen.

Die Luxusliebe des Führers wurde u.a. als Karikatur des Kapitalismus interpretiert.
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Rajneesh grüßt seine Anhänger bei seinen täglichen Grußfahrten in Rajneeshpuram 1982.
Foto: Samvado Gunnar Kossatz/Fair Use

Eine neue Stadt in den USA

Gegen Ende der 70er entstand der Gedanke, den Mittelpunkt der Gemeinschaft in die USA zu verlegen. Die Spannungen rund um den indischen Ashram der Gemeinschaft waren gestiegen, es kam sogar zu tätlichen Angriffen auf Bhagwan, dessen Gesundheit sich zudem immer mehr verschlechterte, und die politische Unterstützung ging verloren. Mit der Durchführung dieser Übersiedlung der Gemeinschaft war Ma Anand Sheela betraut, die zur Privatsekretärin Bhagwans aufgestiegen war. Mit ihr gelangte eine Persönlichkeit ins Zentrum der Gemeinschaft, die mit absoluter Unerbittlichkeit und Rücksichtslosigkeit ihrem Guru diente, bis es schließlich zum offenen Bruch kam.

Nachdem ein passendes Landstück um die aufgelassene "Big Muddy Ranch" in Oregon gefunden wurde, begann man mit dem Aufbau und der Organisation der als "Rajneeshpuram" bezeichneten neuen Stadt. Das Ziel war eine utopische Stadt, die die Ideale Bhagwans realisieren würde und wo alle Mitglieder in Harmonie leben würden. Die Entwicklung nahm ihren verderblichen Lauf, als man von Seiten der Gemeinschaft begann, die vielen Ressentiments von Seiten der Anwohner immer kritischer zu beantworten und selbst politische Ambitionen entwickelte, die auf eine effektive Kontrolle über die Region hinauslaufen sollten. Als eine regionale Wahl zum Stadtrat anstand, setzte man alles daran, die Macht zu übernehmen. Ein erster Versuch bestand darin, aus den gesamten USA Bedürftige und Obdachlose im großen Stil nach Oregon zu transportieren, um das Wählerreservoir zu erhöhen. Das Ganze war mit der Botschaft der Nächstenliebe verbunden und als karitative Tätigkeit interpretiert. Dass man aber die vielen Menschen, die teilweise schwierige Verhaltensweisen an den Tag legten, mit starken Beruhigungsmitteln im ausgeschenkten Alkohol ruhigstellte und sie offensichtlich nur als billiges Stimmvieh sah, trübt diese positive Interpretation etwas.

Rajneesh, mittig, und seine Sekretärin Sheela, rechts.
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Bioterror

Im September 1984 kam es schließlich zum eigentlichen Terroranschlag, der den Endpunkt der genannten Entwicklungen darstellte. Mitglieder der Gemeinschaft setzten in Salatbars der Umgebung gezielt Salmonellen aus, die zu Erkrankungen unter der lokalen Bevölkerung führten. Lange Zeit blieben die Geschehnisse unaufgeklärt und erste Stimmen, die Mitglieder der Gemeinschaft als mögliche Täter identifizierten, blieben ungehört. Doch auch intern kam es zu heftigen Spannungen, die schließlich sogar in einen Mordanschlag auf den privaten Arzt Bhagwans durch ein fanatisiertes Mitglied – das übrigens in der Dokumentation ein Interviewpartner ist und die Geschehnisse aus der heutigen Perspektive Revue passieren lässt – mündeten. Deutlich ist, dass Ma Anand Sheela intern ein rigoroses Regime führte und sich immer mehr zur eigentlichen Regentin in Rajneeshpuram entwickelte. Welche Rolle Bhagwan dabei spielte, bleibt ungeklärt. Jedoch kam es nach der immer deutlicheren Konkretisierung der Schuld am Terroranschlag zu einem offenen Bruch mit Sheela, die daraufhin die Stadt verließ und flüchtete. Doch auch Bhagwan konnte sich letztendlich seiner Verantwortung nicht entziehen. In einer beispiellosen transamerikanischen Verfolgungsjagd wurde er schließlich in North Carolina verhaftet, zwölf Tage lang in Ketten von einem Gefängnis ins nächste transportiert und schließlich zu einer zehnjährigen Bewährungsstrafe verurteilt, die unter der Bedingung, das Land zu verlassen, ausgesetzt wurde.

Rückkehr nach Indien

Nach einer längeren globalen Irrfahrt kehrte er schließlich nach Indien in seinen Ashram zurück. In dieser letzten Phase änderte Bhagwan seinen Namen auf Osho, womit er eigentlich eine japanische Ehrenbezeichnung aus der Zen-Tradition für sich übernahm. Wesentliche Elemente seiner Lehre blieben erhalten, wobei immer stärker hervorgehoben wurde, eigentlich keine Religions(gemeinschaft) sein zu wollen. Er starb 1990 im Alter von 58 Jahren – seine Asche wurde in einem Sarkophag auf dem Ashram bestattet, der einen Ausspruch Meher Babas trägt: "Never Born, Never Died: Only Visited this Planet Earth between Dec 11 1931 – Jan 19 1990."

Rajneesh bei einer Segnung.
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Experiment gescheitert

Die Dokumentation "Wild Wild Country" arbeitet sich an der Vielschichtigkeit der Faktoren ab, die letztendlich zu dieser katastrophalen Entwicklung führte. Es ist vor allem ein Zusammenspiel mehrerer Elemente, die relevant gemacht werden müssen. Für die Gemeinschaft war vor allem das Gefühl der Bedrohung von außen ausschlaggebend, dem man mit großer Unerbittlichkeit begegnete. Widerstand erfährt jede neue Religionsgemeinschaft, entscheidend ist, wie mit diesem Widerstand umgegangen ist. Darauf mit diesem Ausmass an Gewalt zu reagieren, ist der denkbar schlechteste Weg. Maßgeblich für die Entwicklung sind zudem die handelnden Personen. In diesem Fall bleibt der Religionsgründer, Bhagwan selbst, im Hintergrund und es ist bis heute schwer zu erkennen, welchen Anteil er an der problematischen Entwicklung wirklich hatte. Relativ klar ist aber die dominante Rolle seiner "private secretary", Ma Anand Sheela, die auch in allen Stellungnahmen danach und in den Interviews in dieser Dokumentation noch immer ihre selbstgerechte Sicht der Dinge zeigt. So gut wie kein Einsehen oder gar Reue ist erkennbar, wenn sie ihre Version der Ereignisse präsentiert. Den gleichen Eindruck gewinnt man übrigens, wenn man den Dokumentarfilm "Guru. Bhagwan, His Secretary & His Bodyguard" aus 2010 sieht. Sie hinterlässt den Eindruck einer machtversessenen Person, die genauso gut in anderen Kontexten gewirkt hätte, solange ihr der erhoffte Anteil an Herrschaft über andere Menschen gegeben ist. Man kann also nur von Glück sprechen, dass dieses Experiment so rasch gescheitert ist. (Franz Winter, 1.8.2018)

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