Claude Lanzmann: 1925–2018.

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Fünfhundertvierzig Minuten für sechs Millionen Tote: Mit dieser Gleichung erschütterte Claude Lanzmann 1985 nicht nur die Filmgeschichte, sondern auch die große Geschichte – jene der Völker und der Mächte. Der neun Stunden lange Film Shoah war mehr als nur ein Dokument. Er wurde zu einer Instanz. Lanzmann gab darin einen Bericht von den Verbrechen an den Juden in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs. Er setzte dabei auf ein schmerzhaftes Verfahren: Ein paar wenige Überlebende mussten davon erzählen, was denen widerfahren war, die nicht mehr Zeugnis ablegen konnten.

Bereits der Titel enthielt einen absoluten Anspruch. Lanzmann wollte das Wort Holocaust durch einen genuin jüdischen Begriff ersetzen. Und er wollte auch die Trivialisierung, die der Holocaust durch die gleichnamige amerikanische Familienserie aus dem Jahr 1978 erfahren hatte, durch etwas Substanzielles ersetzen: einen Versuch, mit den Mitteln des dokumentarischen Kinos einem Geschehen nahezukommen, das sich eigentlich nicht darstellen ließ.

Enormer Objektivitätsanspruch

Im Kern ist Shoah nicht zuletzt ein Film über ein Bilderverbot, in der die von Vegetation überwucherten Gleise zu den Selektionsrampen für die Orte stehen, an denen 40 Jahre davor Juden in den Tod gehen mussten. Zugleich aber ist Shoah eine große Recherche, wobei ein Mann im Mittelpunkt steht: Claude Lanzmann selbst, der mit seinem gebrochenen Englisch, mit seinem merkwürdigen Charme, mit seiner knarrenden Stimme die Menschen zum Sprechen zu bringen versucht.

Dass sich der enorme Objektivitätsanspruch des Films Shoah in dieser schillernden Figur Lanzmann nicht bricht, sondern daran sogar noch zu wachsen scheint – das hat etwas mit der beinahe prophetischen Autorität zu tun, die er sich anmaßte, die er aber auch überzeugend verkörperte.

Mit Sartre und de Beauvoir

Nicht für sich selbst, sondern für das Volk, in das er hineingeboren war: Claude Lanzmann, 1925 als Sohn von Pariser Juden mit osteuropäischen Wurzeln auf die Welt gekommen, machte schon früh Erfahrungen im Widerstand gegen die Nazis. Nach dem Krieg, als Philosophiestudent in Deutschland und Journalist (im Kreis um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir wie der Zeitschrift Les temps modernes), wurde die "Judenfrage" zu seinem Lebensthema.

Für Sartre, der 1946 die "question juive" in einem Buch aufwarf, war diese Frage eine existenzielle, eine humanistische. Für Lanzmann wurde sie zunehmend auch zu einer politischen, was vor allem mit der Gründung des jüdischen Staats in Reaktion auf die Shoah zu tun hatte. Obwohl – oder gerade weil – er von sich selbst sagen musste, dass er "außerhalb jeder Religion und Tradition, außerhalb jeder im eigentlichen Sinne jüdischen Kultur erzogen" worden war, wurde Claude Lanzmann aufgrund seiner Erfahrungen und Nachforschungen zu einer der wichtigsten Stimmen des europäischen Nachkriegsjudentums.

Legitimationserzählung

Warum Israel? hieß 1973 sein erster Dokumentarfilm, der mitten hinein in eine von Solidaritätsbemühungen für die palästinensische Sache geprägte intellektuelle Stimmung eine Legitimationserzählung für diesen Staat präsentierte. 1994 setzte er mit Tsahal, einem Film über die israelischen Streitkräfte, seine zustimmende Auseinandersetzung mit einem wehrhaften Zionismus fort. Die Geschichte des Aufstands in dem Vernichtungslager Sobibor 1943 rückte Lanzmann erst spät eigens in den Blick. Sie kann aber in der Legitimierungslogik seines Werks als Gründungsmotiv für den wehrhaften Staat Israel gelten.

Die schwierige Unterscheidung zwischen Antizionismus und Antisemitismus wurde in Deutschland etwa anlässlich einer Vorführung von Tsahal in Hamburg sinnfällig, die von Protesten überschattet wurde und anlässlich derer Lanzmann die Kritiker als "Antisemiten" bezeichnete. Seine "Sakralisierung des Holocaust", wie das der Historiker Peter Novick nannte, wurde später in dem Maß differenzierter, in dem Lanzmann erkennen musste, dass die 540 Minuten von Shoah eben doch nicht reichten.

Immer wieder kehrte er zu dem Material aus seinen Recherchen zurück. So endet sein filmisches Werk letztendlich mit einer kontroversen Verbrüderung: In Der Letzte der Ungerechten (2013) legt er seinen Arm um Benjamin Murmelstein, den verhassten Judenrat aus Theresienstadt, den er in Rom aufgesucht hatte.

Flammenkreis um Israel

2009 hatte er seine Erinnerungen, Der patagonische Hase, zu Papier gebracht. Als Lanzmann anlässlich eines Gesprächs in New York im Jahr 2012 gebeten wurde, sich in sieben Begriffen selbst zu charakterisieren, wählte er die folgenden: Jude, Spur, Furcht, Tod, Leben, Ehre, Liebe. Mit seinem Werk schuf er einen Flammenkreis um den Staat Israel, vor allem aber um ein historisches Geschehen, dessen Undarstellbarkeit wesentlich im Dienst der Abwehr jeglicher Wiederholbarkeit steht. Am Donnerstag ist Claude Lanzmann im Alter von 92 Jahren in Paris gestorben. (Bert Rebhandl, 5.7.2018)