Bild nicht mehr verfügbar.

Die Polizei hat den Queen-Elizabeth-Gardens-Park in Salisbury auch am Donnerstag abgeriegelt.

Foto: AP/Matt Dunham

Kein Scienc Fiction-Film, sondern Realität im vergangenen März in Salisbury nach dem Giftgas-Anschlag auf die Skripals.

Foto: AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS

Die Vergiftung eines britischen Paares durch den chemischen Kampfstoff Nowitschok droht die ohnehin angespannten britisch-russischen Beziehungen weiter zu belasten. Nach einer Sitzung des Krisenstabes Cobra wollte Innenminister Sajid Javid am Donnerstag dem Londoner Unterhaus über die Ermittlungen in Salisbury berichten. Sein Staatssekretär Ben Wallace verwies auf den Mordanschlag gegen den Doppelagenten Sergej Skripal an gleicher Stelle und forderte gegenüber der BBC Aufklärung aus Moskau: "Russland könnte unsere sämtlichen Wissenslücken beseitigen und damit die Sicherheit der Menschen gewährleisten."

Der mehr als 100-köpfigen Sonderkommission von Scotland Yard sowie britischen Medienberichten zufolge waren Dawn Sturgess, 44, und Charlie Rowley, 45, am vergangenen Freitagnachmittag und -abend in dem südenglischen Provinzstädtchen Salisbury unterwegs gewesen. Nach diversen Einkäufen machten sie es sich im Queen Elizabeth Gardens, einem kleinen Park am Avon-Fluss, bequem und genossen die sommerliche Hitze.

Die Nacht verbrachte das arbeitslose Paar in Rowleys Wohnung im etwa zwölf Kilometer entfernten Amesbury. Dort wurde am Samstagmorgen Sturgess so krank, dass ihr Partner den Notarzt rief. Am Nachmittag veränderte sich auch Rowleys Zustand. "Er schwitzte stark, seine Augen waren rot, seine Pupillen winzigklein, er halluzinierte", beschrieb ein Freund, der 29-Jährige Sam Hobson, die Symptome des 45-Jährigen im "Guardian".

Die Ärzte im Distriktspital von Salisbury vermuteten offenbar zunächst den Konsum von womöglich verschmutzten Drogen. Spätere von der Kriminalpolizei Wiltshire veranlasste Tests im wenige Kilometer entfernten ABC-Labor von Porton Down ergaben hingegen: Die in Lebensgefahr schwebenden Patienten leiden an einer Nowitschok-Vergiftung.

Kampfstoff aus sowjetischen Labors

Damit ist Großbritannien bereits zum zweiten Mal mit dem höchst seltenen Kampfstoff konfrontiert, der in den 1980er-Jahren in sowjetischen Labors entwickelt wurde. Seither haben staatliche Forschungsstellen weltweit, auch in Porton Down, mit Nowitschok experimentiert, wie es nach der Chemiewaffenkonvention erlaubt ist.

Anfang März waren mitten in Salisbury der von Großbritannien aus russischer Haft freigekaufte Ex-Agent Sergej Skripal, damals 66, und seine 33-jährige Tochter Julia bewusstlos auf einer Parkbank aufgefunden worden. Der Fundort ist nur wenige Fußminuten entfernt vom Queen Elizabeth Gardens, wo sich Sturgess und Rowley am Freitag aufhielten. Die Skripals konnten nach wochenlanger Behandlung im Krankenhaus von Salisbury entlassen werden; sie sind aus dem öffentlichen Rampenlicht verschwunden.

In Salisbury und Amesbury sind nun, wie im März nach dem Anschlag auf die Skripals, diverse Geschäfte und Grünflächen geschlossen. Wissenschafter in Spezialanzügen nehmen Proben an all jenen Stellen, die von den beiden Opfern zuletzt besucht worden waren. Hobson wird regelmäßig untersucht; bisher aber, so die Polizei, sei kein anderer Bewohner der Region wegen unklarer Symptome bei einem Arzt vorstellig geworden. Hingegen hatten im März 32 Personen das lokale Krankenhaus aufgesucht; ein Polizeibeamter musste sogar mehrere Tage stationär behandelt werden.

Die Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) wehrte sich am Donnerstag gegen Vorwürfe, ihre wochenlange Säuberungsaktion in Salisbury sei im Frühjahr nicht gründlich genug gewesen. Hingegen verwies PHE-Abteilungsleiter Paul Cosford darauf, der neue Fall habe mit den Schauplätzen der Skripal-Vergiftung nichts zu tun. "Es gibt keinen Anlass zu der Vermutung, dass die Säuberungen nicht gewirkt haben."

Ermittlungen in alle Richtungen

Bei Scotland Yard hieß es am Donnerstag zwar, man ermittle in "alle Richtungen". Allerdings wird in den britischen Medien die Möglichkeit, sowohl die Skripals wie auch die neuen Opfer könnten von anderen als russischen Agenten vergiftet worden sein, nicht einmal erörtert. Offenbar gibt der Hintergrund von Sturgess und Rowley keinen Anlass zu der Vermutung, sie seien gezielt Opfer eines Mordanschlages geworden. Auch sind Verbindungen zu dem in Salisbury wohnenden Sergej Skripal nicht erkennbar.

Deshalb gilt als wahrscheinlich, dass winzige Reste des tödlichen Giftes an einer der Stellen abgelegt wurden, die Sturgess und Rowley am Freitag besuchten. Experten zufolge verringert sich die Toxizität von Nowitschok nur sehr langsam. Die Opfer könnten wenige Moleküle durch die Haut aufgenommen haben, was die verlangsamte Wirkung erklären würde.

May kündigt umfassende Untersuchung an

Premierministerin Theresa May hat eine umfassende Untersuchung angekündigt. "Die Polizei, das weiß ich, wird keinen Stein auf dem anderen lassen", sagte sie am Donnerstag zum Auftakt ihres Treffens mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Der neue Fall sei "zutiefst beunruhigend". May drückte ihre Anteilname aus. (Sebastian Borger aus London, 5.7.2018)