Wien – Mit großer Skepsis haben Verfassungsexperten auf die am Donnerstag von ÖVP, FPÖ und den Neos beschlossene "Ausgabenbremse" für die Sozialversicherungen reagiert. Diese sei ein Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Selbstverwaltung: "Ich kann mir das schwer vorstellen, dass das vor dem VfGH halten würde", meinte daher Theo Öhlinger.

Aufregung

Inhalt und Vorgangsweise für die "Ausgabenbremse" sorgten schon am Donnerstag für Aufregung: Die Regierungsparteien haben die weitreichenden Maßnahmen für die Sozialversicherungsträger am Donnerstagnachmittag unauffällig in das Erwachsenenschutz-Anpassungsgesetz hineingepackt. Darin heißt es unter anderem, dass Ärzte und Bedienstete der oberen Führungsebene der Versicherungsträger und des Hauptverbandes nur bis Ende 2019 bestellt werden dürfen beziehungsweise deren befristete Verträge nur bis Ende 2019 verlängert werden dürfen. Seitens der SPÖ und auch des ÖGB wurde umgehend kritisiert, dass es sich um eine verfassungswidrige Maßnahme handelt.

Aus verfassungsrechtlicher Sicht für "zumindest fragwürdig" hält die Maßnahmen Verfassungsrechtler Heinz Mayer, da in die Organisationshoheit der Sozialversicherungen eingegriffen wird. Postenbesetzungen gehören wohl zu den inneren Anliegen, die sie als Selbstverwaltungskörper selbst erledigen können: "Daher ist das fragwürdig." Möglich wäre seiner Ansicht nach, dass die Besetzung etwa eine Genehmigung der Aufsichtsbehörde – des Sozialministeriums – benötigt und diese nicht erteilt wird: "Das wäre in einem gewissen Rahmen zulässig." Ein generelles Verbot, leitende Ärzte anzustellen, hält er aber nicht für zulässig. "Es ist jedenfalls ein Grenzbereich", stellte Mayer fest.

"Das ist auf jeden Fall verfassungsrechtlich äußerst fragwürdig, weil es ein ganz massiver Eingriff in die Selbstverwaltung ist, und die ist verfassungsrechtlich garantiert", betonte auch Öhlinger. Er verwies auf die Möglichkeit, dass Kassen und Ministerium über nicht notwendige Investitionen sprechen, da eine grundlegende Organisationsreform vereinbart ist: "Ich nehme an, dass die Kassen das auch verstehen würden." Öhlinger ist der Meinung, dass die beschlossene Regelung nicht vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) hält.

Hauptverband warnt vor Einschnitten

Der Hauptverband der Sozialversicherungen kritisiert den Beschluss und warnt vor Versorgungsengpässen. "Der gesetzlich verordnete Finanzierungsstopp ist bedauernswerterweise ein sehr deutliches Zeichen des Misstrauens", so Hauptverbandschef Alexander Biach.

Die Sozialversicherung wirtschafte seit Jahrzehnten mit größtem Verantwortungsbewusstsein, betonte der Hauptverbandschef. Jede Investition werde ordentlich geplant und in den Gremien beschlossen. Mit dem Beschluss im Parlament werde der Sozialversicherung aber unterstellt, "dass sie nicht wirtschaften kann und unnötig Geld ausgibt", kritisierte Biach.

Hartinger: "Panikmache"

Die "Panikmache" der Krankenkassen sei unbegründet, erklärte die Ressortchefin am Freitag in einer Aussendung und betonte, dass es zu keinen Versorgungsengpässen kommen werde.

"Engpass in Kauf genommen"

Die Chefin der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK), Ingrid Reischl, sieht negative Auswirkungen für die Patienten durch die kurzfristig von der Regierung verordnete "Ausgabenbremse" für die Sozialversicherungen. "Es wird ein Engpass für die Versorgung ganz bewusst in Kauf genommen", empörte sich Reischl.

Die Obfrau der WGKK kritisierte, dass erstmalig die ausgeglichene Gebarung über die Versorgung der Patienten gestellt werde: "Dieses Gesetz setzt den Versorgungsauftrag außer Kraft." Durch die budgetären Vorgaben und den angeordneten Baustopp könnten zahlreiche Vorhaben nicht umgesetzt werden.

Laut Reischl sind vor allem die Kinderversorgung – konkret eine geplante Kinderambulanz im Gesundheitszentrum-Süd der Krankenkasse in Favoriten – und die Schmerztherapie massiv betroffen. Für Letztere sei ein gemeinsames Projekt von Stadt, WGKK und PVA kurz vor der Ausschreibung gestanden, diese könne nun nicht durchgeführt werden. Drei für heuer noch geplante neue Primärversorgungszentren stünden ebenso vor dem Aus wie die Neuaufstellung der Wundversorgung in der Bundeshauptstadt. "Wien wächst – und ich kann die wachsende Bevölkerung nicht mehr versorgen", formulierte es Reischl drastisch.

Befristung als Problem

Problematisch sieht die Wiener Kassenchefin auch die Befristungsvorgaben für Ärzte. "Wenn Sie hochqualifizierte Leute suchen, und die müssen einen befristeten Vertrag nehmen, dann krieg ich sicher nicht das beste Personal", vermutet sie.

Der Gang zum Verfassungsgerichtshof sei eine Option, eine Entscheidung dauere aber mitunter Jahre. Deshalb liege ihre "ganze Hoffnung" kurzfristig beim Bundesrat. Dieser möge die Bremse ziehen, das Gesetz nicht absegnen und damit dessen Wirksamwerdung verhindern, appellierte Reischl.

Als Motiv hinter dem "überfallsartigen" Beschluss vermutet die Obfrau: "Vielleicht hat die Regierung rechnen gelernt und ist draufgekommen, dass ich eine Milliarde in der Verwaltung nicht sparen kann, wenn ich nur 480 Millionen Euro Verwaltungskosten habe." Um das Einsparungsziel doch zu erreichen, müsse man nun eben bei der Versorgung ansetzen, mutmaßt Reischl.

Scharfe Kritik an der "Ausgabenbremse" übt auch die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse (NÖGKK). "Für Nachbesetzungen werden wir kein geeignetes Fachpersonal mehr finden, wenn jeder qualifizierte Arbeitsplatz ein Ablaufdatum im Jahr 2019 hat. Das ist eine betriebsorganisatorische Katastrophe", hieß es zur APA.

"Es bewahrheitet sich nun, was wir befürchtet haben: Die Kundennähe in den Bezirken soll eingeschränkt werden", teilte die NÖGKK mit. Die Projekte in Horn, Neunkirchen und Waidhofen a. d. Ybbs müssten auf Eis gelegt werden. "Sogar der bereits beschlossene Bau des Service-Centers in Pöchlarn und die Fertigstellung des Service-Center-Neubaus in Gänserndorf könnten gefährdet sein", hieß es in einer Stellungnahme.

"Showeffekt"

Manfred Brunner, der Obmann der Vorarlberger Gebietskrankenkasse (VGKK), sieht den Gesetzesbeschluss im Nationalrat als eine "Maßnahme, die dem Showeffekt geschuldet ist". Es sei selbstverständlich, dass in einer Veränderungsphase Behutsamkeit angesagt sei, "dafür bräuchten wir aber nicht eine Regierung, die uns einen Ausgabendeckel aufs Auge drückt", sah Brunner einen "Misstrauensvorschuss".

Ärztekammer: Ärzte tragen Risiko

Die Ärztekammer kritisierte, dass in den Vertragsverhandlungen nur noch die Finanzsituation der Kassen eine entscheidende Rolle spielen soll und nicht mehr die Notwendigkeit einer kassenärztlichen Versorgung: "Das gesamte Versicherungsrisiko wird den Ärzten aufgebürdet." Auch die befristeten Gesamtverträge mit Nulllohnrunden bis Ende 2019 seien verlängert worden, so ÖÄK-Vizepräsident Steinhart.

Dies bedeute, dass es längst fällige Investitionen in dringend erforderliche Leistungsausweitungen nicht geben soll: "Innerhalb der Regierung hat sich offensichtlich eine Industrie- und Wirtschaftslobby durchgesetzt." Steinhart meinte, dass "Teile der Bundesregierung" offenbar fürchten, die "guten Ergebnisse in Wien" – die gemeinsam von Ärztekammer, WGKK und Stadtpolitik möglich geworden seien – von anderen Bundesländern zum Vorbild genommen werden könnten. "Reflexartig wird gleich die gesetzliche Notbremse gezogen", kritisierte Steinhart.

Arbeiterkammer: "Ungeheuerlich"

Auch Arbeiterkammerpräsidentin Renate Anderl kritisiert "verfassungsrechtlich bedenkliche Eingriffe in die Selbstverwaltung", so die AK-Präsidentin. Die "Ausgabenbremse" blockiere vor allem die Versorgung mit qualitativ hochwertigen Leistungen: "Das bekommen letztlich die Versicherten zu spüren und das ist ungeheuerlich", zeigte sich Anderl empört.

Die Eingriffe würden nicht nur die Wiederbestellung von leitenden Angestellten und Ärzten oder Bauvorhaben betreffen. Es gehe auch um die Leistung der Versicherten, denn ein Abschluss von Gesamtverträgen mit den Vertragspartnern ist bis Ende 2019 nur noch mit einer Steigerung der prognostizierten Beitragseinnahmensteigerung zulässig. Die anderen im Gesetz angeführten Kriterien wie der Stand der ärztlichen Wissenschaft oder die demografische Entwicklung dürfen in dieser Zeit keine Rolle spielen, moniert Anderl. (APA, 6.7.2018)