Panik vor den Nazis: August Schmölzer und Martin Schwab in "Cella".

Foto: APA / Michael Jäger

Reichenau an der Rax – "So machen wir Theater" haben die Festspiele Reichenau ihre diesjährige große Plakatwand betitelt. So machen wir Theater heißt auch der illustrierte Jubiläumsband, der jetzt zum 30. Geburtstag der Festspiele erschienen ist. Diesem Titel bzw. Motto hallt eine eingeschriebene Abgrenzung zu anderen Theatern nach: Das Theater in Reichenau ist also "so" und eben nicht wie anderswo.

Ganz richtig. Während das Theater andernorts seine formalen Luftsprünge macht, sich neuen Formaten und Kunstsparten öffnet, Erzählweisen und Perspektiven oft radikal hinterfragt, ersteht in Reichenau umgeben vom monarchischen Zauber der Sommerfrischedestination alljährlich eine Welt von gestern, in der sich vor allem die Literatur der Jahrhundertwende in strammem Schauspielertheater entfaltet. Mit Arthur Schnitzlers Dreiakter Das Vermächtnis und Franz Werfels Romanfragment Cella oder die Überwinder (in der Adaption von Nicolaus Hagg) sind die diesjährigen Premieren nun komplett. Es folgt diesen Sonntag noch die szenische Lesung von Joseph Roths Das falsche Gewicht.

Reichenau bemüht sich stets darum, die Stücktexte durch Regieeingriffe nicht zu irritieren. Imaginiert wird somit jeweils in der Manier eines realistisch-psychologischen Spiels eine Welt, wie sie zur Entstehungs- und Spielzeit des Stücks gewesen sein könnte. Mit allen dazugehörigen Details in der Ausstattung und Abbildung von jeweils vorherrschenden Rollenbildern. Männer treten in breitschultrigen Mänteln auf, lüpfen den Hut, verteilen Handküsse und überreichen der Dame des Hauses Rosen. Bringt einer auch einen Cognac mit, dann eilt selbige sofort um die Gläser.

Das Publikum geht also auf Zeitreise und blickt auf die Klarheit (und zugleich Starre) in den sozialen wie gesellschaftlichen Rollen samt ihren damaligen Konflikten. In Schnitzlers Vermächtnis sind es die tief verankerten Standesdünkel des Wiener Fin de Siècle, die es einer angesehenen Bürgerfamilie anscheinend verunmöglichen, einer armen jungen Frau – sie ist immerhin die Mutter des illegitimen Enkels – ein Heim anzubieten. Hermann Beils Inszenierung scheitert am überstrapazierenden "Erspielen" narrativer Details. So muss etwa David Jakob als Verunfallter einen ganzen Akt lang eine Gehirnerschütterung mimen und dennoch auf dem Kanapee für alle bis in die letzte Reihe akustisch verständlich mehrmals seinen letzten Willen kundtun. Ein verzettelter Abend, an dem die Schauspieler die Zügel in der Hand haben und dabei auch über die Stränge schlagen.

Patriotische Juden

Auch Stückneuadaptionen wie Nicolaus Haggs Überarbeitung von Werfels Cella gehen in Reichenau ganz in der historischen Abbildung auf. Klar, in diesem unvollendeten Roman dreht sich alles um einen konkreten Wendepunkt der Zeitgeschichte: die Monate im Jahr 1938 vor der Machtübergabe an Adolf Hitler. Werfel schildert am Beispiel der jüdischen Familie Bodenheim und von deren musikalisch hochbegabter Tochter den Kampf patriotischer Juden gegen die anrückenden Nazis. Die Schauspieler erhalten in diesem von Michael Gampe solide inszenierten Konversationsstück die Spannung stets aufrecht; Szenenwechsel auf der Arenabühne finden im Halbdunkel statt, begleitet von unheilvollen Krähenrufen. Ein mauvefarbenes Kanapee ist stummer Zeuge der fatalen Chronik, in der Dr. Bodenheim (August Schmölzer) schließlich mit seinen Freunden (u._a. André Pohl als Indus trieller, David Oberkogler als Prinz Esterházy) inhaftiert wird.

Wie schnell sich die politische Lage ändern wird, das hatten Gretl Bodenheim (Julia Stemberger) und Prof. Scherber (Martin Schwab im Stil eines verrückten Professors) schon früh geahnt. Die zen trale Figur des Romans aus heutiger Sicht ist aber der Opportunist Zoltan Nagy (Sascha O. Weis). Ihn hat Hagg mustergültig beschrieben: "Das Wasser, in dem er nicht oben schwimmt, ist noch nicht erfunden." (Margarete Affenzeller, 6.7.2018)