Der Kanzler mit dem irischen Landwirtschaftsminister Michael Creed.

Foto: APA/BUNDESKANZLERAMT/DRAGAN TATIC

Irlands Regierungschef Leo Varadkar empfängt seinen österreichischen Amtskollegen.

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Ravensdale – Die meisten der Traktoren, Lkws und Kleinwagen, die an diesem bewölkten Montagmorgen auf der Carrickdale Road die Grenze zwischen Irland und Nordirland passieren, bremsen nur kurz ab, wenn sie die beiden Streifenwagen der Garda erblicken, die an der Grenzlinie stehen. Und fahren dann unbeirrt weiter.

Nur die Straßenmarkierungen lassen hier erkennen, in welchem Land man sich befindet. Irland malt sie in Gelb, Großbritannien in Weiß. Das ehemalige Grenzhäuschen, bis vor zehn Jahren in Gebrauch, ist heute außen mit Efeu überwachsen, innen vermüllt. Wie lange sein Dornröschenschlaf noch währt, weiß im Moment niemand. Auch hier nicht, in Ravensdale, das an einer der wichtigsten Transitrouten zwischen Dublin und Belfast liegt.

Grenzbefestigung in Echtzeit

Doch dann bildet sich doch noch ein Stau an der Grenze. Die Garda sperrt die Straße, ein Konvoi fährt vor, die Traktoren, Lkws und Kleinwagen müssen warten. Noch sind es nicht Zoll- und Passkontrolle, die ihnen den Weg versperren, sondern Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz. Fernab von Balkanroute, Brenner und bayerischen Transitzentren stattet er Ravensdale einen Besuch ab. Schließlich dürfte sich in dem zwischen satten Wiesen und dunklen Hügeln gelegenen Städtchen bald in Echtzeit die Rückkehr der Grenzen in Europa beobachten lassen – wenn sich in den kommenden neun Monaten nichts ändert. Sechs davon liegen in der Zeit der österreichischen Ratspräsidentschaft.

"Der Brexit ist hier nicht nur ein reales, sondern auch ein emotionales Thema", sagt Kurz. Vor 20 Jahren noch seien hier Menschen gestorben. "Wir sind alle froh und dankbar, dass es möglich war, diese Frage zu klären, und die Klärung war natürlich auch nur deshalb möglich, weil es hier eben keine harte Grenze gibt." Zwischen 1960 und 1998, als im Norden irische Nationalisten und britische Loyalisten einander bekämpften, waren weite Teile der 500 Kilometer langen Grenze durch Stacheldraht, Wachtürme und schwer bewaffnete Soldaten bewehrt.

Uneins über Grenzfrage

Heute erscheint ein solch hartes Grenzregime in Orten wie Ravensdale surreal. 30.000 irische EU-Bürger und nordirische Briten pendeln Tag für Tag von Nord nach Süd und umgekehrt. Und doch könnte spätestens nach Ende der Übergangsfrist 2021 die Zeit des freien Waren- und Personenverkehrs auf der Grünen Insel auch schon wieder vorbei sein. Etwas mehr als zwei Jahre nach dem britischen Volksentscheid über den Brexit sind sich London und Brüssel nach wie vor nicht eins über einen Modus Operandi an der künftigen EU-Außengrenze.

Eine sogenannte harte Grenze wollen sie beide nicht. Wie sie sich verhindern lässt, weiß man aber weder dort noch da. Auch Bundeskanzler Kurz nicht. "Wir wollen EU-Chefverhandler Michel Barnier bestmöglich unterstützen", sagt er immer wieder. Bis Oktober, so hofft er, soll ein Ergebnis der Verhandlungen vorliegen. Dabei entscheidet sich gerade auch hier, in Ravensdale, ob der Brexit ein harter wird – oder ein möglichst sanfter. "Alle EU-Länder werden unter dem Brexit leiden, das steht fest", sagt Irlands Landwirtschaftsminister Michael Creed, der Kurz zu der Ausfahrt an die Grenze begleitet. "Aber wir in Irland besonders."

Doch auch für Großbritannien steht viel auf dem Spiel. Am Nachmittag wird Kurz nach London weiterreisen, wo er Premierministerin Theresa May trifft. Erst unlängst ließ das Londoner Außenministerium durchspielen, wie Ersteres vonstattengehen könnte. Der Hafen von Dover, heißt es in dem geleakten Papier, würde innerhalb weniger Stunden kollabieren, in Schottland würden die Lebensmittel knapp werden, im ganzen Land die Medikamente. Und das noch im besten Fall.

In Ravensdale, wo die Kolonne nach Ende des Kanzlerbesuchs wieder ungestört über die Grenze rauscht, will man sich das besser nicht vorstellen. (Florian Niederndorfer aus Ravensdale, 9.7.2018)