Fünf Jahre lang hat der NSU-Prozess gedauert, am Mittwoch fällt nun am Oberlandesgericht München das Urteil. Die deutsche Bundesanwaltschaft fordert für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe lebenslange Haft mit Sicherheitsverwahrung.

Sie ist überzeugt: Zschäpe war Mittäterin bei neun Morden an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund, einem Mord an einer Polizistin, zwei Bombenanschlägen und 15 Raubüberfällen, die dem rechtsextremen "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) zur Last gelegt werden. Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin der "Süddeutschen Zeitung", war fast an jedem Verhandlungstag im Gericht und sagt, sie habe dort in einen "Abgrund" geblickt.

STANDARD: Sie waren in den fünf Jahren des NSU-Prozesses fast jeden Verhandlungstag im Gerichtssaal. Wie haben Sie die Hauptangeklagte Beate Zschäpe erlebt?

Ramelsberger: Anfangs war sie wie eine Sphinx, sehr rätselhaft. Wir hatten alle gehofft, dass sie etwas sagen wird. Sie ließ erst nach mehr als 200 Tagen von ihren Anwälten eine Erklärung verlesen, und da fielen alle Hoffnungen zusammen, dass sie etwas zur Aufklärung beitragen wird. Ihre Erklärung war dünn und unglaubwürdig.

Beate Zschäpe während des fünf Jahre dauernden Prozesses.
Foto: APA/dpa/Marc Müller

STANDARD: Zschäpe stellte sich als unschuldig dar und will von den Morden nichts gewusst haben.

Ramelsberger: Sie sagte, sie sei nur aus Liebe mit den beiden Männern (Uwe B. und Uwe M., Anm.) in den Untergrund gegangen. Sie präsentierte sich als schwaches Hascherl, das für die beiden kochte. Aber wenn man sah, wie sie mit dem Gericht Katz und Maus spielte und ihre Anwälte austauschte, dann passt das nicht zusammen.

STANDARD: Welches Strafmaß erwarten Sie für Zschäpe?

Ramelsberger: Entweder stuft das Gericht sie als gleichberechtigte Mittäterin ein, dann wäre sie eine alte Frau, wenn sie aus der Haft kommt. Oder das Gericht sieht sie wirklich nur als Helferin, die nicht im engsten Zirkel war. Dann könnte es eine Freiheitsstrafe unter 15 Jahren geben. Aber man darf bei den zehn Morden nicht vergessen: Zschäpe ist auch wegen der Brandstiftung im letzten gemeinsamen Haus des Trios in Zwickau angeklagt. Da hat sie eine alte Frau in Lebensgefahr gebracht. Das könnte als versuchter Mord gewertet werden.

Die Bildkombo zeigt undatierte Porträtfotos der zehn durch die Neonazi-Terrorzelle NSU Ermordeten. Oben, von links: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kiliç und die Polizistin Michèle Kiesewetter; unten, von links: Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat.
Foto: APA/dpa/dpa

STANDARD: Viele Nebenkläger, die Angehörige verloren haben, sagen: Das Strafmaß ist eigentlich nicht so wichtig. Verstehen Sie das?

Ramelsberger: Ihnen ging es vor allem um Aufklärung, um die große Frage nach dem Warum. Warum traf es genau ihre Väter, Söhne oder Ehemänner? Und sie würden gerne wissen: Laufen da draußen noch andere aus dem NSU herum, die ihnen auflauern und das mörderische Werk vollenden wollen?

STANDARD: Gibt es diese?

Ramelsberger: Es gibt sehr viele Menschen, denen die zehn Morde egal sind. Zeugen aus der rechtsextremen Szene erklärten vor Gericht reihenweise ganz klar: Wir sagen nichts, wir haben eine andere Werteordnung als Sie. Das war eine Mauer des Schweigens, die rechte Szene steht zusammen. Da herrschte sogar klammheimliche Freude über die zehn Toten.

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Der Medienrummel rund um den Prozess in München wird wieder größer.
Foto: REUTERS/Michael Dalder/File Photo

STANDARD: Welche Momente im Prozess haben Sie als besonders schrecklich empfunden?

Ramelsberger: Ein Angeklagter erklärte, er sei Nationalsozialist mit Haut und Haaren, ein anderer ließ über seinen Anwalt Zitate von Hitler und Göring verbreiten. Das war schon ein Schlag in die Magengrube. Generell war es furchtbar zu erleben, dass bis auf einen Angeklagten niemand die Taten glaubwürdig bereute – und wie viele Menschen sich von der Mitte der Gesellschaft so weit entfernt haben. Wir erlebten als Zeugen angeblich bürgerliche Existenzen wie Maurer, Abschleppunternehmer oder einen Hauswart, die Rechtsextremismus ganz normal finden.

STANDARD: Sie sprachen davon, während des Prozesses in einen Abgrund geblickt zu haben. Was ist damit gemeint?

Ramelsberger: Dass der Staat die Opfer jahrelang alleine ließ. Familien wurden falsch verdächtigt und unter Druck gesetzt, der Staat wollte den rechtsextremen Hintergrund nicht sehen. Der Sohn des ersten Opfers Enver Şimşek war 13 Jahre alt, als sein Vater ermordet wurde. Er sagte, als später klar wurde, dass es Rechtsextremisten waren, sei die Familie regelrecht erleichtert gewesen, weil sie selbst endlich nicht mehr verdächtigt wurde. Und dafür hat sich nie ein Polizist entschuldigt.

STANDARD: War der Staat auf dem rechten Auge blind?

Ramelsberger: Ich war von 2002 bis 2008 im Berliner Büro der "Süddeutschen" für die Themen Sicherheit und Terrorismus zuständig und in vielen Hintergrundkreisen des BND und des Verfassungsschutzes. Immer wieder fragten wir nach einer "braunen RAF" und erhielten die Antwort, dass es diese nicht gebe, da die Rechten zu dumm seien, keine Führungsfigur hätten und zudem die Geheimdienste sonst davon wüssten. Es war genau die Zeit, in der der NSU mordete. Vielleicht hätten auch wir Journalisten genauer hinschauen müssen.

STANDARD: Sie und Ihre Kollegen von der "Süddeutschen Zeitung" haben den gesamten Prozess protokolliert. Warum tut man sich das an?

Ramelsberger: Weil es sonst niemand tut. Zwar machen sich die Richter und die Verteidiger Notizen. Aber es gibt kein offizielles Protokoll von diesem Jahrhundertprozess. Als Begründung gab das Gericht an, Zeugen könnten sich gehemmt fühlen, wenn alles auf Tonband aufgenommen wird. Das ist schon sehr weit hergeholt. So haben wir die Arbeit der Justiz übernommen und alles aufgeschrieben für die Nachwelt. Wir werden im Herbst eine mehrbändige Dokumentation herausbringen. (Birgit Baumann aus Berlin, 11.7.2018)

Beitrag aus der ZiB um 7 Uhr.
ORF