Sandra Hüller – knielanges Sommerkleid, flache, rote Sandalen, verstrubbelte Kurzhaarfrisur, eine cognacfarbene Ledertasche über der Schulter – eilt auf das Große Festspielhaus zu. Es ist kurz vor neun, die Sonne knallt an diesem Julimorgen auf den Platz vor dem prominenten Gebäude in der Hofstallgasse. Ein bestimmtes "Hallo", ein routinierter Händedruck, Hüller gräbt in ihrer Tasche nach dem Mitarbeiterausweis. Über den Seiteneingang geht es am Portier vorbei in das langgestreckte Haus vor dem Mönchsberg. Die deutsche Schauspielerin hat zum ersten Mal beruflich in Salzburg zu tun. Sie läuft die Stiegen hinauf ("das Geländer könnte man gut runterrutschen!"), ruft ein "Ach, wie toll" in den Konzertsaal hinein, im ersten Geschoß Begeisterung über das 50er-Jahre-Flair und das viele Rosa an den Wänden.

Die 40-Jährige ist erst vor wenigen Tagen in Salzburg angekommen. Viel Zeit für ein ausgiebiges Erkunden der Stadt wird sie in den nächsten Wochen nicht haben. Salzburg, das heißt für Sandra Hüller in diesem Sommer: Pendeln zwischen Wohnung und Proberaum, zwischen Memoryspielen mit dem Kind und Textlernen. Auch an diesem Morgen hat die Schauspielerin die Zeit im Auge, der Regisseur will schon um zehn mit den Proben beginnen. Die Deutsche spielt Kleists Penthesilea – auf der ihr bislang unbekannten Bühne des Landestheaters, aber zusammen mit einem Vertrauten: Der Niederländer Johan Simons führt Regie. Über ihn sagt die Schauspielerin, er sei der Theaterregisseur, der sie am meisten geprägt hat. Was ihn auszeichnet? Da muss selbst Hüller, die sich mit dem Formulieren von Antworten gern Zeit lässt, nicht lange überlegen. Die Arbeit mit Simons sei "frei von Druck oder Machtsituationen. Er muss nicht alles kontrollieren und sucht sich sehr eigenständige Mitarbeiter."

Kino und Theater

Sandra Hüller, 1978 in der ostdeutschen Kleinstadt Suhl geboren, Absolventin der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin, muss es wissen. Sie hat mit ihm einige Produktionen realisiert. Breite Aufmerksamkeit bescherte ihr allerdings das Kino. Da gilt sie heute als Spezialistin für sogenannte unkonventionelle Frauenrollen: Als Epileptikerin Michaela, dem Wahnsinn nahe, erlebte die Schauspielerin mit Hans-Christian Schmids Film Requiem ihren Durchbruch, über zehn Jahre ist das mittlerweile her. Nach einigen ausgesuchten Arthausproduktionen dann 2016 Maren Ades überraschender Kinohit Toni Erdmann.

Sandra Hüller wurde von ihrem Bruder Christian im Leipziger Stadtteil Plagwitz fotografiert. Hier lebt die Schauspielerin, seit sie aus München weggezogen ist.
Foto: Christian Hüller

Als schräges, berührendes Vater-Tochter-Gespann eroberten Peter Simonischek und Sandra Hüller mit falschem Gebiss und Käsereibe Cannes, die Zuschauer und Hollywood – auch wenn der Auslandsoscar ausblieb. Der Druck danach war enorm, Hüller erklärte später, die USA hätten sie zwar positiv überrascht, eine Hollywood-Karriere sei aber nichts für sie. Einer der Gründe: der Konformitätsdruck der Filmindustrie; sie müsste in Hollywood zu einer anderen werden, erklärte sie dem Guardian. Aber nimmt dieser Druck nicht auch im europäischen Kino zu? Sandra Hüller winkt ab, über so etwas mag sie an diesem Morgen in Salzburg nicht reden. Nur so viel: "Diesen Wettbewerb untereinander, das Gleichmacherische finde ich völlig uninteressant."

In Maren Ades Film "Toni Erdmann" spielte Sandra Hüller neben Peter Simonischek.
Robert Hofmann

Ihr Ausstiegsszenario nach Toni Erdmann fiel trotzdem überraschend aus. Statt für einen weiteren Arthausfilm entschied sich Hüller ausgerechnet für die deutsche Paukerkomödie und Großproduktion Fack ju Göhte 3 mit Elyas M'Barek: "Nach Toni Erdmann gab es natürlich einen Punkt, an dem ich nicht wusste, wie ich weitermachen soll. Ich wollte ausprobieren, ob es da noch etwas anderes für mich gibt und wie das geht." Sie habe sich gegen diese Art von Filmen immer gewehrt, nie habe sie Teil von einem solch riesigen Apparat sein wollen. Jetzt hat sie sich das Ganze einfach mal aus nächster Nähe angesehen.

Haben die Kinoerfolge eigentlich ihre Prioritäten verschoben? Sandra Hüller schüttelt den Kopf, schaut ein wenig streng und auch ein wenig nachsichtig, wieder eine dieser typischen Journalistenfragen. "Irgendein toller amerikanischer Schauspieler meinte mal, das Theater sei sein Haus, das Kino sein Vorgarten. Das sehe ich ähnlich." Tatsächlich hat die Schauspielerin trotz aller Kinoerfolge konsequent am Theater festgehalten, nach dem Kinofilm Requiem arbeitete sie mehrere Jahre unter Johan Simons' Leitung an den Münchner Kammerspielen. Der Niederländer fragte sie irgendwann, wen sie unbedingt einmal spielen wolle. "Die Penthesilea", sei ihre Antwort gewesen, "ohne zu wissen, auf was ich mich da einlasse."

Die Deutsche lebt derzeit in Salzburg – und pendelt zwischen Proberaum und Wohnung hin und her.
Foto: Christian Hüller

Hüller nimmt einen Schluck aus der Trinkflasche in ihrer Handtasche. Vor eineinhalb Jahren wurde die Zusammenarbeit mit Simons beschlossen, jetzt steckt die Deutsche mitten in den Proben: "Wir lernen Text, bis die Köpfe rauchen." Das Kleist-Drama soll als Zweipersonenstück über die Bühne gehen, an Sandra Hüllers Seite: der Deutsche Jens Harzer.

Über die Inszenierung kann und will die Schauspielerin noch nicht reden. Nur so viel: "Diese eine Begegnung von Penthesilea und Achill könnte man auf zwanzig verschiedene Arten spielen, damit wäre ein Abend gefüllt." Und überhaupt, Kleist! Die überlegte, immer ein wenig skeptisch schauende Frau im Sommerkleid wird mit einem Mal zum euphorischen Fan: "Kleist reicht für mich über Shakespeare hinaus: Er emotionalisiert mich mehr, die Vielschichtigkeit der Konflikte ist einzigartig bei ihm." Sandra Hüller hat also keine Angst vor unkonventionellen Liebeserklärungen. Aber warum sollte sie die auch haben? Spätestens seit ihrem Nacktauftritt in Maren Ades Film gilt die Deutsche als furchtlos, manche meinen, sie sei die spannendste Schauspielerin ihrer Generation.

Der Friesennerz schaue bequemer aus, als er eigentlich sei, erklärt die Schauspielerin Sandra Hüller.
Foto: Christian Hüller

Lag die Süddeutsche Zeitung etwa richtig, als sie nach Toni Erdmann ein Porträt mit Die Frau, der nichts peinlich ist überschrieb? Wieder dieser distanziert-spöttische Hüller-Blick. Er soll so viel sagen wie: Da haben die sich wieder was einfallen lassen. Dem sei nicht so, sie habe in dem Artikel doch schon alles gesagt, gibt sie zurück. Und nach einer kurzen Denkpause: "Mir sind unglaublich viele Dinge peinlich, ich hasse zum Beispiel FKK. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum sich Leute gemeinsam nackt irgendwo hinlegen." Aber in der DDR war die Freikörperkultur doch viel selbstverständlicher als in Westdeutschland, oder? "Ich habe schon als Kind gedacht: Warum muss ich das sehen, was geht mich der Körper des anderen an?"

Fernsehen nach der Wende

Sandra Hüller war elf Jahre alt, als sie dabei zusah, wie das System DDR in sich zusammenfiel. Die Idee, Schauspielerin zu werden, reifte damals nicht im Theater, sondern vor dem Fernseher: "Ich habe oft gedacht: Das glaub ich jetzt nicht, die weint doch gar nicht echt." Sie hat sich dann an der Schule im Theaterkurs ausprobiert: Sich in unterschiedliche Leute reinzuversetzen habe eine Tür geöffnet. "Ich war ein eher unsicheres Kind und habe plötzlich eine Sicherheit gefunden."

Überhaupt sei sie ihre Karriere, die sich heute so bilderbuchartig darlegt, nie zielgerichtet angegangen, immer sei eins nach dem anderen gekommen, erklärt Hüller: "Am Anfang gab es einen großen Hunger. Heute kann und will ich das Adrenalin nicht mehr permanent so hoch halten wie mit 20." Man lerne, seine Kräfte besser einzuteilen, insbesondere mit Familie: "Ich bin ja nicht mehr alleine auf der Welt, kann mich nicht mehr verausgaben und dann drei Wochen hinlegen." Denn da gibt es die mittlerweile siebenjährige Tochter. Bisher kennt sie ihre Mutter nicht auf der Bühne, doch langsam zeige sie Interesse, komme gelegentlich zu Proben mit. Letztens, fällt Sandra Hüller dann noch ein, habe sie ihr die Whitney-Houston-Szene in Toni Erdmann gezeigt – "aber die fand sie unheimlich langweilig". (Anne Feldkamp, RONDO, 13.7.2018)