Martin Pollack (Jahrgang 1944) ist Autor und Übersetzer. Zuletzt erschien von ihm "Topografie der Erinnerung" (Zsolnay, 2016). Gerade wurde der Autor mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis ausgezeichnet, der im Oktober zusammen mit dem Georg-Büchner-Preis verliehen wird.

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Übersetzer werden oft mit Brückenbauern verglichen, zu Recht, wie ich meine. Auch wir unternehmen es, Hindernisse zu überwinden und Verbindungen über Grenzen hinweg herzustellen, allerdings nicht mit Beton und Stahl, sondern mithilfe der Sprache, der Literatur. Es ist unsere Aufgabe, die Barrieren und Gräben, die uns von Menschen anderer Zunge, anderer Herkunft, anderer Kultur trennen, zu überbrücken, um eine Verständigung mit dem Anderen zu ermöglichen und das unseren Gesellschaften von jeher innewohnende Misstrauen dem Fremden gegenüber abzubauen. Übersetzer treten stets für den Dialog ein, für das Gespräch anstelle der Konfrontation, für das befruchtende Miteinander anstelle der Abgrenzung und Isolierung.

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Eine österreichische Autobahnbrücke, kurz vor dem Grenzübergang am Brenner, wo heute wieder Grenzkontrollen durchgeführt werden.
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Also Brückenbauer. Vermittler zwischen den Kulturen, die uns anspornen, uns mit anderen Erfahrungen, Traditionen, Denkweisen und Narrativen auseinanderzusetzen und das Andersartige als Bereicherung zu akzeptieren. Diese Aufgaben des Übersetzers erscheinen mir heute dringlicher denn je. Denn wir leben in stürmischen Zeiten, in denen sich die Begegnung mit dem Anderen als eine der wichtigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erweist, wie der polnische Autor Ryszard Kapuscinski in einem hellsichtigen Essay voraussagte, der den Titel Der Andere trägt.

Kapuscinski führt dort aus, dass wir bei einer Begegnung mit dem Anderen grundsätzlich drei Möglichkeiten haben: Zum Ersten können wir den offenen Konflikt suchen, den Kampf, den Krieg. Eine Option, die in den meisten Fällen für alle Beteiligten im Desaster endet.

Dem Anderen die Hand reichen

Oder, zweite Möglichkeit, wir entscheiden uns dafür, den Anderen nicht anzugreifen, sondern uns von ihm abzugrenzen, ihn durch hohe Mauern und streng bewachte Zäune von unserem Lebensraum fernzuhalten.

Und schließlich die dritte Option: die friedliche Begegnung auf Augenhöhe, die Bereitschaft, Gedanken und Kenntnisse auszutauschen und dem Anderen helfend die Hand zu reichen, falls er dessen bedarf. Dazu gehört, dass wir im Anderen nicht von vornherein eine Verkörperung der Fremdheit und der Bedrohung sehen, sondern ihn als ebenbürtigen Mitmenschen betrachten, den wir in seiner Eigenheit respektieren. Unter gewissen Voraussetzungen sind wir dann auch bereit, ihn in unserer Gesellschaft aufzunehmen und zu integrieren, sodass die Unterschiede zwar nicht verschwinden, aber keine Rolle mehr spielen.

Lange Jahre hatte es den Anschein, als hätten wir in Mitteleuropa, überhaupt im freien, demokratischen Europa uns für die dritte Option entschieden, für die friedliche, aufgeschlossene Begegnung mit dem Anderen, für das Miteinander und nicht das Gegeneinander, für die Solidarität mit jenen, die unserer Hilfe bedürfen, und nicht die schroffe Ablehnung.

Ausschlaggebend dafür waren sicher nicht zuletzt die traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, das geprägt war von der doppelten Fratze des Totalitarismus, von den Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus, von Konzentrationslagern und Gulag, von Deportationen, Vertreibungen, Massenmord und Holocaust. Die Verbrechen der Vergangenheit haben in vielen Ländern Europas tiefe Wunden hinterlassen, die bis heute nicht zur Gänze verheilt sind und immer wieder aufbrechen.

Als im Juni 1989 der österreichische Außenminister mit seinem ungarischen Amtskollegen den unsere Länder trennenden Stacheldraht durchschnitt, sahen wir darin ein Fanal für den Aufbruch in eine neue Epoche, eine Epoche der Freiheit, einer sich anbahnenden friedlichen Vereinigung Europas, die auch die Staaten Osteuropas erfassen sollte. Das demokratische Europa dehnte sich immer weiter aus und wuchs gleichzeitig zusammen, Grenzen verloren an Bedeutung, Meinungs- und Bewegungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und politische Stabilität, Toleranz und Verantwortung für die Schwächeren wurden zu selbstverständlichen Werten, die das Zusammenleben der Menschen bestimmten.

Europa versinkt in Streit und Hader

Vom damals herrschenden Aufbruchsoptimismus ist nichts mehr zu spüren. Europa versinkt in Streit und Hader. Pessimisten prophezeien bereits den Zerfall der EU, der vom Brexit eingeläutet wurde. In manchen Ländern wird das Wanken des vereinten Europa triumphierend zur Kenntnis genommen, obwohl es gerade diese Länder sind, die von der EU am meisten profitieren. Viktor Orbáns Ungarn und Jaroslaw Kaczynskis Polen sind dafür unrühmliche Beispiele.

Wir erleben, nicht nur in Europa, sondern auch in anderen Teilen der Welt, vor allem in den Vereinigten Staaten, einen radikalen Rechtsruck, einen politischen, auch geistigen Backlash, gekennzeichnet durch den scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch eines europaskeptischen, manchmal europafeindlichen Populismus, der einen ganzen Rattenschwanz rechtsextremer, xenophober, nicht selten offen faschistischer Gruppierungen und Parteien hinter sich herschleppt, von denen sich die Rechtspopulisten nur ungern distanzieren.

Betrachten sie doch die Vertreter des "rechten Narrensaums", wie das ein österreichischer rechter Ideologe euphemistisch nannte, als mögliche Bündnispartner oder auch Handlanger fürs Grobe, vielleicht ein bisschen primitiv und brutal, aber das kann sich in gewissen Situation ja als durchaus nützlich erweisen. Der Rechtspopulismus mit all diesen giftigen Begleiterscheinungen breitet sich in Europa aus wie eine Epidemie, gegen die noch kein Mittel gefunden wurde.

Europafeindliche Haltung

In Italien sind erst vor kurzem europafeindliche Populisten an die Macht gekommen, in Polen und Ungarn regieren sie schon seit Jahren. Dort haben sie längst ihre Positionen gefestigt und damit begonnen, die liberale Demokratie zu demontieren und autoritäre Regime zu etablieren, orientiert an einer Vergangenheit, die alles andere als demokratisch war.

In Tschechien wurde ein Präsident zum zweiten Mal ins Amt gewählt, der aus seiner europafeindlichen Haltung keinen Hehl macht. In Deutschland sitzt die erklärt fremdenfeindliche, rechtsextreme AfD im Bundestag, und auch in anderen Ländern, in scheinbar gefestigten Demokratien wie Schweden, Dänemark oder den Niederlanden, um nur einige Beispiele zu nennen, sind Parteien mit faschistischen Anstrichen zu ernstzunehmenden politischen Faktoren geworden.

Aber wir dürfen nicht mit Steinen werfen, Österreich ist alles andere als eine Insel der Seligen in dieser Hinsicht. Aus dem Umfeld einer der beiden Regierungsparteien dringen immer wieder rechtsextreme, fremdenfeindliche, islamophobe und antisemitische Äußerungen und Vorfälle an die Öffentlichkeit, die man mit bestem Willen nicht als vereinzelte Ausnahmefälle abtun kann. Zu oft werden Hakenkreuze und andere Nazi-Schweinereien gepostet, werden bei diversen Gelegenheiten einschlägige Lieder gegrölt und die Arme zum Hitlergruß gehoben, von den Schmähungen gegen Ausländer, vor allem Flüchtlinge, gar nicht zu reden. Und der zweite Regierungspartner schweigt in der Regel dazu.

Das wichtigste Argument für die Rechtspopulisten aller Schattierungen war und ist zweifellos die Flüchtlingsfrage oder Migrationsfrage insgesamt. Die sich seit Jahren manifestierende Unfähigkeit des vereinten Europa, eine trag- und konsensfähige Antwort auf diese Probleme zu finden, verschafft den Populisten seit Jahren den Zulauf immer neuer Wählerschichten, während die Verfechter menschlicher Lösungen zusehends in die Defensive geraten.

Die Flüchtlingsfrage ist der Motor, der die Mühle der Populisten ständig am Laufen hält. Wobei wir es hier nicht mit einem Problem zu tun haben, sondern mit einem ganzen Bündel manchmal ganz unterschiedlich gelagerter Probleme, die wir auf keinen Fall kleinreden, schon gar nicht unter den Tisch kehren dürfen.

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Flüchtlinge 2015: "Die Flüchtlingsfrage ist der Motor, der die Mühle der Populisten am Laufen hält. Wobei wir es hier nicht mit einem Problem zu tun haben, sondern mit einem Bündel ganz unterschiedlich gelagerter Probleme, die wir auf keinen Fall unter den Tisch kehren dürfen."
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Mit ihren wie ein Mantra wiederholten Warnungen vor immer neuen und noch größeren Flüchtlingsströmen, die Europa zu überrennen drohen, haben die Rechtspopulisten erreicht, dass überall in Europa wieder über Grenzen und Grenzsperren nachgedacht und geredet wird. Mancherorts werden sie auch bereits errichtet. Italien möchte alle Häfen für Flüchtlingsboote schließen, der österreichische Innenminister ruft eine neue Grenzschutztruppe ins Leben und kündigt an, im Notfall die "Grenzen dichtzumachen", obwohl die objektiven Zahlen einen solchen Alarmismus keineswegs rechtfertigen.

Europa soll zur Festung ausgebaut werden, um uns gegen alles Fremde abzuschotten, ganz nach den Vorstellungen Viktor Orbáns, der noch vor wenigen Jahren wegen seiner radikalen Ansichten, vor allem in der Flüchtlingsproblematik, in Europa als Außenseiter galt. Heute spielt er in diesen Fragen europaweit eine Vorreiterrolle, für die ihm auch österreichische Politiker Kränze flechten. Orbán lobt seinerseits Österreich und Italien als "Verbündete" bei der Verschärfung der Flüchtlingspolitik.

Ähnliche Töne schlägt der österreichische Innenminister an, der ebenfalls die neue italienische Regierung, deren Mitglieder sich in fremdenfeindlichen Äußerungen überbieten, einen "starken Verbündeten" in der europäischen Migrationspolitik nennt. Im selben Atemzug verspricht er, den Begriff der Solidarität bei der Verhinderung der Migration zu beleben. Ich glaube nicht, dass der Begriff Solidarität je zuvor so zynisch verwendet wurde.

In Europa macht sich eine Ablehnungskultur breit, deren Credo, auf einen einfachen Nenner gebracht, lautet: Die Grenzen dicht! Unerwünschte Migranten und Flüchtlinge sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst! Und das ist wörtlich gemeint. Dazu kommt eine nicht weniger schrille europafeindliche Propaganda, die zum Widerstand gegen das angebliche Diktat von Brüssel bläst, das als Hort alles Bösen dargestellt wird. Diese Propaganda dröhnt in Ungarn und Polen besonders laut, aber sie ist auch in Tschechien und anderen Ländern zu vernehmen, auch in Österreich.

Übersetzer sind Vermittler

Die Folgen lassen nicht auf sich warten. Wir registrieren ein Zerbrechen der europäischen Solidarität, nicht nur in der Flüchtlingsfrage, und genau darum scheint es den Rechtspopulisten zu gehen. Die Flüchtlingsproblematik ist nur ein Vorwand, in Wahrheit zielen Politiker vom Schlag eines Viktor Orbán in Ungarn, Milos Zeman in Prag oder Jaroslaw Kaczynski in Polen auf die Zerstörung des vereinten Europa und seiner Institutionen ab, die sie, viel zu zaghaft, daran zu hindern versuchen, die liberale Demokratie im eigenen Land zu zerstören. Zuerst im eigenen Land und dann in ganz Europa.

Nun kann man natürlich fragen, was diese Probleme, die ich hier nur gestreift habe, mit dem Thema der Übersetzung zu tun haben. Was haben Übersetzer von Literatur mit diesen politischen Fragen zu tun? Ist es überhaupt zulässig, dass sich literarische Übersetzer in die Politik einmischen, dass sie in solchen Fragen das Wort ergreifen? Dürfen sie das überhaupt? Haben Übersetzer nicht ihre eigenen Probleme, genügen ihnen die nicht? Wären sie nicht besser beraten, sich aus solchen Dingen herauszuhalten und auf das zu konzentrieren, wovon sie wirklich etwas verstehen, nämlich auf die Literatur, auf ihre Wörterbücher und ihren Schreibtisch?

Ich bin allerdings der Ansicht, dass Übersetzer in ihrer Funktion als Brückenbauer und Vermittler zwischen den Kulturen sehr wohl das Recht haben, sich in politischen Fragen zu Wort zu melden, vor allem, wenn es um ihre Grundkompetenz geht, nämlich um die Begegnung mit dem Anderen und den Umgang mit der Sprache in diesem Zusammenhang.

Wir Übersetzer haben ein besonderes Sensorium für die Sprache, für das Wort, für die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, die in der Politik zunehmend zu verschwimmen droht. Wir registrieren besorgt die um sich greifende Verrohung der Sprache und die bedenkenlose Bereitschaft, den Anderen verbal niederzumachen, ihn auszugrenzen, wie sie Rechtspopulisten aller Länder an den Tag legen. Auf diese Weise werden bestehende Brücken niedergerissen und an ihrer Stelle Mauern hochgezogen. Möglichst hohe, unüberwindliche Mauern.

Abschließend möchte ich, um von der leidigen Politik wegzukommen und mich wieder der Literatur zuzuwenden, noch einmal Ryszard Kapuscinski zitieren, der in dem Band Meine Reisen mit Herodot über seine Begegnung mit der großen Chinesischen Mauer schreibt.

Eine Mauer, so Kapuscinski, ist einerseits ein Objekt des Stolzes, aber zugleich ein Beweis für menschliche Fehler und Schwächen, für einen schrecklichen Irrtum der Geschichte und die Unfähigkeit der Menschen, sich miteinander zu verständigen und zu beraten, wie sie Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, gemeinsam lösen könnten. Daran waren schon die alten Chinesen nicht interessiert, denn ihre erste Reaktion auf eventuelle Probleme bestand darin, eine Mauer zu bauen. "Sich abzuschotten, sich abzugrenzen. Denn das, was von draußen kommt, VON DORT, kann nur eine Bedrohung darstellen, eine Ankündigung des Unheils, einen Vorboten des Bösen, ja, die Verkörperung des Bösen schlechthin."

"Eine Mauer", so fährt Kapuscinski fort, "dient allerdings nicht nur der Verteidigung. Denn während sie uns gegen das schützt, was uns von außen bedroht, gestattet sie uns auch, das zu kontrollieren, was im Inneren vor sich geht. Die Mauer hat schließlich Durchgänge, Tore und Einfahrten. Wenn wir diese bewachen, können wir überprüfen, wer hereinkommt und wer hinausgeht, wir können fragen und examinieren, ob er eine gültige Genehmigung besitzt, wir können uns die Gesichter anschauen, beobachten, uns einprägen. So eine Mauer ist also gleichzeitig Verteidigungsschild und Falle, Schutz und Käfig.

Der schlimmste Aspekt der Mauer besteht jedoch darin, dass sie in vielen Menschen eine Haltung von Mauerverteidigern entstehen lässt, dass sie ein Denken hervorbringt, in dem durch alles eine Mauer verläuft, die unsere Welt in Böse und Niedrige – die da draußen – und Gute und Höherstehende – die drinnen – einteilt." Kapuscinskis Meine Reisen mit Herodot ist in Polen 2004 erschienen, die deutsche Übersetzung kam ein Jahr später heraus. (Martin Pollack, 14.7.2018)