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Stefan Brändle über FRANKREICH

Man würde exzessiven Nationalstolz erwarten, patriotisches Jubelgeschrei: Frankreich steht zum dritten Mal seit 1998 im Finale der Fußballweltmeisterschaft. Und da die Grande Nation, wie schon Charles de Gaulle deklamierte, "sich selbst nur im ersten Rang" ist, muss allen Franzosen und Erdenbürgern klar sein, wer das Endspiel am Sonntag für sich entscheiden wird. Für einmal weit gefehlt. In Frankreich waren weder vor der WM noch in den Gruppenspielen triumphale Töne zu hören. Gewiss hatte Trainer Didier Deschamps eine junge und starke Sélection aufgebaut, und Frankreich ist zudem selbst in aufstrebender Form: Die schweren Terroranschläge von 2015 liegen schon Jahre zurück; wirtschaftlich geht es bergauf, und Jungpräsident Emmanuel Macron verströmt ganz unfranzösischen Optimismus.

Erst nach und nach haben sich die Franzosen in Massen für ihre Bleus begeistert. Doch jetzt: Nationalfeiertag und WM-Finale an einem Wochenende – besser geht es kaum.
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Und doch bleibt der imaginäre Revolutionssoldat Nicolas Chauvin, der dem gutfranzösischen Chauvinismus im 19. Jahrhundert den Namen gegeben hat, außer Gefecht. Der größte Privatsender TF1 versuchte zwar mit allen Mitteln, das Fußballfieber zu wecken. Doch die Franzosen ließen sich von der zu augenfälligen – kommerziellen – Absicht kaum anstecken.

Erst nach dem Halbfinalsieg gegen Belgien hat der Funke gezündet. Und wie! Durch die geöffneten Fenster der Nation ging bei dem Abpfiff ein einziger Siegesschrei. Minuten später setzten überall im Land die Hupkonzerte ein. "Allez les Bleus!", schrien im Pariser Vorort Cachan die Banlieue-Kids, und als sich diskret ein Wagen mit Blaulicht näherte: "Allez la police!" Die Uniformierten lachten mit, unsicher, ob das nun euphorisch oder ganz leicht provokativ gemeint war.

Egal: Seit Dienstagabend wirken die streitbaren Gallier wieder einmal vereint. Die üblichen Trennlinien durch die Gesellschaft haben sich dank dem Fußballwunder der Bleus – bis auf weiteres – aufgelöst. Alle schwärmen für Trainer Deschamps, der zuvor in den Banlieue-Vierteln arg kritisiert worden war, weil er den Real-Madrid-Star Karim Benzema nicht in die Sélection berief.

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Der französische Nationalstolz ist nicht chauvinistisch, er steckt voller positiver Energie und wirkt ansteckend.
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Nach dem Belgien-Match versöhnte sich Dechamps auch mit Thierry Henry, der 1998 in der französischen WM-Elf gespielt hat und heute ausgerechnet Belgien mittrainiert. Die großen Pariser Medien hatten den von den Antillen stammenden Banlieue-Helden deswegen des "Landesverrats" bezichtigt. Dabei spendete der Multimillionär sein belgisches Salär von 8.000 Euro gemeinnützigen Zwecken; und vor allem hat er erklärt, er arbeite nur deshalb in Belgien (und zuvor Großbritannien), weil er aus Frankreich nie Jobangebote erhalte. Sein Vater erklärte dies damit, dass der Filius in Frankreich eben als dunkelhäutiger "Boloko" (Nichtsnutz) gelte.

Das war aber der einzige unschöne Ton, und er wurde noch auf dem Spielfeld durch die herzliche Umarmung Deschamps' und Henrys ausgemerzt. Anders als beim französischen WM-Sieg 1998: Damals hatte der rechtsextreme Front National noch die Blauen für zu schwarz befunden. Jetzt hält sich Marine Le Pen zurück, auch wenn wohl nicht aus Einsicht, sondern weil sie um politische Salonfähigkeit bemüht ist.

Dabei hatten die Franzosen ihre Nationalelf keineswegs von Beginn weg ins Herz geschlossen. Mit einer gewissen Distanz verfolgten sie zuerst längere Zeit, was ihre Mannen auf dem Spielfeld zu bieten hatten. Die Mehrheit der 65 Millionen Franzosen schloss erst nach und nach Bekanntschaft mit Spielerstars, die als Fußballlegionäre in ausländischen Meisterschaften kicken: etwa Kylian Mbappé, der einen Vater aus Kamerun und eine Mutter aus Algerien hat; N'Golo Kanté, "der Mann mit den drei Lungen", in Paris aufgewachsen, aber in England spielend. Oder Samuel Umtiti, der zweijährig aus Kamerun nach Lyon gekommen war und heute in Barcelona verteidigt.

Sein matchentscheidendes Tor gegen Belgien änderte alles: Hundertausende meist jugendliche Landsleute strömten in der Nacht auf Mittwoch in die Straßen, in Paris auf die Champs-Élysées. Der massive Auflauf war nicht nur ein Ausdruck sportlicher Leidenschaft, ist doch Frankreich keine eigentliche Fußballnation. Es war eher die gemeinschaftliche und gutfranzösische Festfreude: Alle fühlten sich frei, gleich und brüderlich.

Ein Land wird zu Marianne

Beeindruckend zu sehen, wie dieses Volk ausgefuchster Individualisten in Momenten der nationalen Eintracht zu einer einzigen Masse verschmilzt, als wäre sie eine einzige Person. Frankreich sei wirklich eine Person, hatte schon der berühmte Historiker Jules Michelet befunden. So analysierte er die kollektive Vorliebe für die Monarchie, dann für die Revolution und bald wieder für Kaiser Napoleon. Marianne, die Landesfigur Frankreichs, ist oft bäuerlich reserviert, aber auch impulsiv und leidenschaftlich.

Der Zufall – doch gibt es Zufälle?, fragt Marianne – will es, dass am Samstag Nationalfeiertag ist. Der Kern des Quatorze Juillet ist, von Tanzbällen in den Feuerwehrlokalen und abendlichen Feuerwerken eingerahmt, die Truppenparade auf den Champs-Élysées. Ein waffenklirrendes Muskelprotzen der Armee für unbelehrbare Militärköpfe? Nicht für die Franzosen. Am 14. Juli pilgern Familien in Shorts, die Kinder auf den Schultern, zu Zehntausenden an die Avenue zwischen Triumphbogen und Concorde-Obelisk, um "ihren" Elitesoldaten, Offizierinnen und Fremdenlegionären zu lauter Blasmusik zu applaudieren.

Beeindruckend zu sehen, wie dieses Volk ausgefuchster Individualisten in Momenten der nationalen Eintracht zu einer einzigen Masse verschmilzt, als wäre sie eine einzige Person.
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Sie alle wissen: Der Nationalfeiertag geht auf den Sturm des Bastille-Gefängnisses zurück, also auf den Beginn der großen Revolution. Weniger bekannt ist: Die erste Truppenparade in Paris war im Jahr 1880 von einem republikanischen, politisch links stehenden Staatschef – Jules Grévy – organisiert worden, um die Volksmassen gegen die deutschen Nationalisten zu mobilisieren.

Wenn das "peuple parisien", das Pariser Volk, heute auf die Champs-Élysées strömt, geschieht das natürlich nur noch bedingt aus revolutionärem Eifer. Selbst die faustreckenden Gewerkschafter verlegen ihre Großdemos heute lieber in den "roten" Ostteil des Hauptteils um die Bastille und meiden die "Champs" mit ihren Luxusläden.

Aber ob nun die Soldaten der Republik oder die Anhänger der Bleus über die Pariser Prachtavenue ziehen: Auf jeden Fall tragen sie Marianne in ihrem Herzen mit. "Vive la République, vive la France", lachte Stürmerstar Antoine Griezmann am Dienstagabend, die gestreckte Hand wie zum militärischen Gruß an die Schläfe legend. So will es das französische Temperament. Und ein Nationalstolz, der auch in der geballten Masse – anders als in deutschen Landen – keine Angst macht. Eher verströmt er eine ansteckende Festfreude. Gewiss, gegen Mitternacht verkommt sie oft zu trinkseligem, manchmal aggressivem Gegröle. Ihr gemeinschaftlicher Ansatz ist hingegen positive Energie und kollektive Freude.

Erst recht, wenn Marianne das WM-Finale gewinnen sollte. (Stefan Brändle aus Paris, 15.7.2018)

Adelheid Wölfl über KROATIEN

Es war die beste Party, die es in Kroatien jemals gegeben hat. Nach dem 2:1 gegen England am Mittwoch tanzten die Menschen auf den Plätzen, in den Hinterhöfen, auf Bänken und Tischen bis in die Morgenstunden. Der Erfolg, den man sich selbst kaum zugetraut hatte, setzte eine derartige Euphorie und Erleichterung frei, dass viele Kroaten meinten, es sei überhaupt das bisher wichtigste Ereignis für die Nation. Im gewöhnlich ruhigen und konservativen Zagreb sangen sich die Leute im kollektiven Taumel eine Nacht lang lautstark alles Mögliche von der Seele.

Vor allem den Frust. Viele Menschen in dem jüngsten EU-Staat mit nur vier Millionen Einwohnern sind von Minderwertigkeitskomplexen gequält, von Chancen- und Perspektivlosigkeit, der Abhängigkeit von Parteien und Clans und dem Eindruck, dass es niemals besser werden wird. Die Gehälter sind niedrig, die Arbeitslosigkeit hoch, viele junge Leute wollen auswandern, allein im Vorjahr haben 90.000 Menschen das Land verlassen. Es gab in den letzten Jahren wirklich kaum einen Grund, sich zu freuen.

Spieler statt Generäle

Dass ein derart kleines Land so viele gute Fußballer hervorbringt, erfüllt nun viele mit Stolz, ja fast mit einer von Erstaunen getragenen neuen Selbstwahrnehmung. Neben dem Krieg sei es der Fußball, der eine Nation definiere, hatte der verstorbene erste kroatische Präsident Franjo Tuđman gesagt. Waren es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vor allem die Kriegsgeneräle, die man feierte, so ist Kroatien nun sichtbar bei dem zweiten Nationsbildungswerkzeug angelangt. Und das ist entspannend.

Patriotismus als Entspannungstherapie: Viele Menschen sangen sich nach dem Erreichen des WM-Finales selig alles Mögliche von der Seele.
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Denn der Fokus auf den Krieg (1991–1995) und mitunter auch die Verherrlichung von Kriegsverbrechern und die Betonung der eigenen Opferrolle waren und sind zwar in der Identitätsbildung sehr wirksam, aber förderten ganz sicher nicht Offenheit und Lebenslust. Der spielerische Patriotismus, der in diesen Tagen das Land ergriff, wirkt daneben ungleich leichter und befreiender.

Die Politisierung des Fußballs hat in Kroatien eine lange Geschichte, so gerieten etwa serbische und kroatische nationalistische Fans im Jahr 1990 im Maksimir-Stadion aneinander. Der Fußballstar Zvonimir Boban gab damals einem Polizisten einen Tritt und wurde damit zum Idol vieler kroatischer Nationalisten. Aber sogar die Rivalität mit Serbien ist nun aufgeweicht. In Belgrad gibt es in diesen Tagen viele Serben, die das kroatische Team unterstützen – so viele wie noch nie zuvor. In sozialen Medien wird darüber diskutiert, ob der Tormann Danijel Subašić mit seinem orthodoxen Vater womöglich ein Serbe sei.

Marko Kmezić vom Südosteuropa-Zentrum der Universität Graz meint, dass es nun eine Chance gebe, ein neues Narrativ für das nationale Projekt in Kroatien zu entwickeln, mit dem man sich von der jetzigen Tradition, inklusive des "Flirts mit dem Faschismus", distanzieren könnte. Allerdings müsste dieses positive Narrativ von Eliten und Medien ausgestaltet werden. Einstweilen ist zumindest der Samen dafür vorhanden: Freude und wachsendes Selbstvertrauen.

Neben dem Krieg ist es der Fußball, der eine Nation definiert. Das hatte schon der erste kroatische Präsident Franjo Tuđman erkannt.
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Aber die Fußball-WM zeigt auch das hässliche Gesicht des jungen Landes mit den großen Identitätsproblemen. Vor allem in der Diaspora und unter den ebenfalls oft radikalnationalistischen Kroaten in der Herzegowina und in Bosnien gibt es eine unheilvolle Verbindung zwischen Rechtsextremismus und Hardcore-Fußballfantum. Die kroatische Diaspora, die – wie die Diaspora aus der gesamten Region – nationalistischer ist als die Zuhausegebliebenen, fällt verstärkt mit Geschichtsrevisionismus auf. Dieser bezieht sich auf die Zeit des faschistischen NDH-Staats (1941–1945), der die Nürnberger Rassengesetze übernahm und systematisch die Ermordung von Serben, Juden und Roma betrieb. Die faschistischen Ustasche, die die ideologischen Träger dieses Systems waren, werden in Liedern, Zeichen und Symbolen von diesen Fußballfans weiter verehrt.

Viele in Kroatien erinnern sich in diesen Tagen auch an das Jahr 1998, als Kroatien erstmals sehr erfolgreich bei der Fußball-WM war.
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Für Empörung sorgte etwa, dass der Spieler Dejan Lovren – der übrigens aus dem bosnischen Zenica stammt – nach dem Sieg über Argentinien das Lied "Bojna Čavoglave" des revisionistischen Sängers und Nationalisten Thompson sang. Thompson-Konzerte werden vielerorts in der EU verboten. In der Herzegowina nutzen die Radikalen die Fußballerfolge sogar, um gegen den eigenen Staat Bosnien-Herzegowina und für ein Großkroatien aufzutreten.

Für einen Skandal der geopolitischen Sorte – der aber auch viel mit der kroatischen Geschichte zu tun hat – sorgte der Spieler Domagoj Vida. Nach dem Sieg über Russland rief er "Ehre der Ukraine", ein Spruch, der auch von ukrainischen Nationalisten verwendet wird. Vida entschuldigte sich später dafür. Viele Kroaten meinen, der Fußballer hätte das vor allem gesagt, weil er ja selbst in den letzten Jahren für Dynamo Kiew gespielt hatte. Doch die proukrainische Haltung entspricht auch der Haltung der aktuellen Regierung unter Andrej Plenković. Kroatien wollte für die Ukraine jüngst sogar als Vorbild für die Reintegration abgespaltener Gebiete in den Staatsverband dienen. Im Hintergrund spielt eine Rolle, dass sich der mitteleuropäische Nato-Staat auch als Bollwerk gegen den orthodoxen Osten, den Einfluss Russlands und als Verteidiger Europas versteht. Es handelt sich dabei aber eher um einen Abgrenzungswunsch als um tatsächlichen politischen Handlungsspielraum.

Denn tatsächlich gibt es bemerkenswerten Einfluss Russlands in Kroatien – etwa durch die massiven Kredite, die die russischen Staatsbanken dem schwer verschuldeten Lebensmittelriesen Agrokor gewährten. Dass Plenković nun ausgerechnet nach Moskau zum Spiel der Spiele reisen musste, also in ein Stadion, in dem die Kroaten von russischen Fans ausgebuht werden, ist reiner Zufall, aber nicht ohne Spitze. Mit Russland hat man wirklich gar nichts am Hut. Aber diese geopolitischen Fragen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Für das Selbstverständnis ist eher bedeutsam, dass man mit den großen westeuropäischen Teams auf Augenhöhe spielt. Man fühlt sich endlich in Europa angekommen und anerkannt.

Dass ein derart kleines Land so viele gute Fußballer hervorbringt, erfüllt nun viele mit Stolz, ja fast mit einer von Erstaunen getragenen neuen Selbstwahrnehmung.
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Viele in Kroatien erinnern sich in diesen Tagen auch an das Jahr 1998, als Kroatien erstmals sehr erfolgreich bei der Fußball-WM war. Allerdings war die Stimmung in dieser Zeit – drei Jahre nach Ende des Kriegs – bei weitem nicht so entspannt, sondern mit einem viel aggressiveren Nationalismus aufgeladen. Damals ging es nur um die Nation, heute geht es auch um eine fröhlichere Gesellschaft. Zumindest in diesen Sommertagen ist sie auf den Plätzen in den kroatischen Städten zu sehen, wo Alt und Jung gemeinsam den Ball umrangeln. (Adelheid Wölfl aus Zagreb, 15.7.2018)