Schwebezustand zwischen Sein und Nichts: Dave St-Pierre in "Neant".

Foto: Karolina Miernik

Ungeduldig wetzt Dave St-Pierre auf einem Sitz im Auditorium des Odeon, während das Publikum seine Plätze einnimmt. Schnell, kreischt er und schwenkt seine Smartphone-Uhr, die Show fängt an! Er wendet sich an seine Nachbarin: "Sind sie Kritikerin?" – "Ja." Ob sie ein Foto von seinem Hintern machen wolle. Er trägt eine blonde Perücke und ist mit nichts als einem transparenten Kleidersack bekleidet.

"Néant" nennt der kanadische Choreograf sein neues Solowerk, mit dem er am Donnerstag die diesjährige Ausgabe des Festivals Impulstanz eröffnet hat: "Nichts" wie im Titel von Jean-Paul Sartres L’être et le néant. Da dieses Hauptwerk des französischen Existenzialismus ein wichtiges Kapitel über den Leib enthält, könnte man spekulieren, ob St-Pierre in Sartres Denken plätschernd an "Néant" gearbeitet hat. Aber am Ende des Stücks ergäben sich auch Argumente dafür, dass er sich eventuell im Zuber von Martin Heideggers Sein und Zeit geräkelt und mit Slavoj Žižeks The Courage of Hopelessness eingeseift hat.

Obwohl diese Performance sauberer abläuft als St-Pierres frühere Arbeit "Un peu de tendresse bordel de merde" (2006) – eine Orgie mit Ketchup und anderem Gatsch –, könnten derlei Unterstellungen von der in ihr tanzenden Fatalität ablenken.

Denn die zappelige Figur in den Sitzreihen ist eine Verkörperung eines Performers aus "Un peu de tendresse..."-Zeiten, die darüber jammert, dass der heutige Dave St-Pierre sie nicht mehr brauchen kann.

Weil der "echte" Dave St-Pierre eh noch nicht da ist, eilt der überflüssig gewordene Performer im Kleidersack auf die Bühne und preist seine Qualitäten an. Er kann Pina Bausch nachmachen und Jan Fabre persiflieren (dastehen und an seinem Penis rütteln).

Weiters bringt er die Drehungen aus Anne Teresa De Keersmaekers Stück "Fase" fertig. Außerdem könnte auch er wie Marina Abramović in "The Artist is present" auf einem Sesserl sitzen und Leuten aus dem Publikum in die Augen schauen, bis aus diesen Tränchen perlen. Würde nicht in seinem Live-Versuch ein riesiger Aufblas-Penis zwischen ihm und seinen Kandidaten die Sicht versperren. Zwischendurch verwandelt sich die Narrenfigur von früher in den St-Pierre von heute, der seinen Schwebezustand zwischen Sein und Nichts in Form einer beidseitigen Lungentransplantation hinter sich hat.

Sie legt die Perücke ab, zieht sich den Kleidersack über den Kopf und lässt in verschiedenen Szenen bewegte Bilder darauf projizieren. Viel Zeit vergeht.

Der Narr verhonigelt Kunstrituale, und Neu-St-Pierre spielt mit der Flüchtigkeit von allem, auch der anfänglichen Hektik. Mit dem Mut der Hoffnungslosigkeit bleibt am Ende der Narr – wieder als Teil des Publikums – sitzen, während sich nach dem Applaus die Reihen leeren. (Helmut Ploebst, 13.7.2018)