Nach einem Schlaganfall ist Dagmar Brichta auf Hilfe angewiesen. Bis jetzt musste sie alle Kosten für ihre Betreuung vorstrecken, ob ihr Antrag auf Pflegegeld bewilligt wird, weiß sie noch nicht.

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Die Angst vor dem "Familiengespenst" hatte Dagmar Brichta lange im Hinterkopf. Als sie Ende Jänner ihren Arm nicht mehr spürte, ahnte sie, dass sie einen Schlaganfall erlitten hatte – wie so viele in ihrer Familie zuvor. Die 77-Jährige konnte noch ihren Sohn verständigen, der gleich die Rettung rief.

Im Krankenhaus wurde das Gespenst zur Diagnose: Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung. Acht Wochen lang lag sie im Spital, weitere acht Wochen war sie auf Rehabilitation. Dagmar Brichta erschrak, als ihr bewusst wurde, was sie plötzlich nicht mehr konnte: Nase putzen, Zähne putzen, überhaupt den rechten Arm verwenden – ein schwerer Einschnitt in das Leben der pensionierten Lehrerin. Seit ihr Mann verstorben war, hatte sie allein in einer Wohnung im elften Bezirk in Wien gelebt. Obwohl ihr von Geburt an der linke Unterarm fehlt, konnte sie den Alltag selbstständig bewältigen. Sie ging regelmäßig schwimmen, unternahm Reisen und engagierte sich in der Pfarre: Hilfe war für sie das, was andere benötigen.

Rückkehr nach Hause

Den Entschluss, wieder nach Hause zu wollen, hatte sie sofort gefasst. Sechs Wochen sei sie nur gelegen und habe sich gar nicht bewegen können, erzählt sie. "Aber am zweiten Tag war mir klar: Mein Hirn funktioniert. Ich schaffe es." Die Erleichterung darüber lässt sie heute noch zufrieden lächeln. Brichta hat Glück. Sie hat Familie, auf die sie zählen kann – drei Kinder und acht Enkelkinder, teilweise über Österreich verstreut. Noch als sie auf Reha war, organisierte einer ihrer Söhne eine 24-Stunden-Betreuung für die erste Zeit danach. Kostenpunkt: etwa 2600 Euro im Monat.

Für Fälle wie jenen von Frau Brichta ist in der Hauptstadt der Fonds Soziales Wien zuständig. Case-Manager, wie die Sachbearbeiter dort heißen, besuchen die Kunden, also die Patienten, bereits im Spital oder in ihrer Wohnung, sobald sie entlassen werden. Sie besprechen den Pflegeaufwand, legen die Wochentage und Tageszeiten fest, an denen eine Heimhilfe kommen soll, und füllen gemeinsam Formulare für die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) für die Einstufung für das Pflegegeld aus.

Brichta hat Glück. Sie hat Familie, auf die sie zählen kann – drei Kinder und acht Enkelkinder, teilweise über Österreich verstreut.
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Das österreichische System kennt sieben Pflegestufen. Sie orientieren sich am Aufwand, der für die Pflege notwendig ist. Die erste Pflegestufe geht von mehr als 65 Stunden Betreuung pro Monat aus, 157,30 Euro beträgt der Zuschuss. Bei der höchsten Pflegestufe rechnet man mit mehr als 180 Stunden pro Monat. 1688,90 Euro bekommt der Betroffene für seine Versorgung. Ab der dritten Pflegestufe (120 Stunden, 451,80 Euro) wird auch ein Zuschuss für eine 24-Stunden-Betreuung gewährleistet.

Auch den Antrag auf Pflegegeld stellte Brichta bereits während ihrer Reha. Damit war zwar ihre Rückkehr nach Hause gesichert, aber auf eine Rückmeldung auf ihr Ansuchen wartete sie zunächst vergeblich.

Zwischen Antrag und Bewilligung des Pflegegeldes kann Zeit vergehen. Im Durchschnitt dauert ein Verfahren zwei Monate, heißt es aus der PVA.

Damit Pflegegeld bewilligt wird, muss der Pflegebedarf mindestens sechs Monate andauern. Um diesen festzustellen, braucht es die Begutachtung durch einen Arzt. Der Antrag auf Pflegegeld kann zwar schon während des Krankenhausaufenthalts gestellt werden, die Untersuchung erfolgt aber erst, wenn der Patient wieder zu Hause ist. Der Zeitpunkt ist wichtig, denn Pflegegeld wird rückwirkend ausgezahlt.

Eine Mischung aus Verzweiflung und Ungeduld habe sie verspürt, erzählt Brichta. Wovon sollte sie die Betreuung bezahlen? Wie viel musste sie noch vorstrecken und wie lange? Um ihren gewohnten Alltag aufrechtzuerhalten, braucht Brichta Hilfe – und Sicherheit, dass sie finanzielle Unterstützung bekommt.

Nicht selten hörte Brichta während ihres Hürdenlaufs durch die Behörden, sie solle sich doch um einen Platz in einem Pflegeheim bemühen.
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Vier Wochen wurde die Pensionistin zu Hause rund um die Uhr betreut. Brichta bekommt 580 Euro eigene Pension und zusätzlich eine Witwenrente in der Höhe von 1400 Euro – doch die Betreuungskosten waren ohne Pflegegeld zu hoch. Ihre Wohnung hatte sie sich schon vor ihrem Schlag anfall altersgerecht herrichten lassen, zum Glück. Die Türen sind breit genug für ihren Rollstuhl, das Bett ist verstellbar wie ein Krankenbett. Aber es kamen weitere Ausgaben auf sie zu, die die neue Situation erforderte.

Von der Pensionsversicherungsanstalt wurde sie trotzdem mehrfach vertröstet. Ein Arzt werde kommen, um die Pflegestufe festzustellen, hieß es. Sie wartete weiter, fragte wieder nach. Nur das Telefon zu halten verursacht ihr Beschwerden. Vier Wochen, sechs Wochen vergingen. Ein Brief konnte nicht zugestellt werden, hieß es einmal. Der Arzt sei doch schon gekommen, hörte sie ein anderes Mal. Dagmar Brichta weiß nichts davon. Endlich erreicht sie den zuständigen Allgemeinmediziner, der beteuert, ihren Fall erst vor kurzem zugeteilt bekommen zu haben. Nach zwei Monaten und vielen Beschwerden wird der Termin festgelegt, wann der Arzt für die entscheidende Untersuchung zu Brichta kommt.

Nicht selten hörte sie während ihres Hürdenlaufs durch die Behörden, sie solle sich doch um einen Platz in einem Pflegeheim bemühen. Dann entfielen der ganze Aufwand, Kosten und Mühen. Für sie keine Option:_"Dort bleibe ich ja für immer."

Dagmar Brichta entscheidet, dass Unterstützung untertags für sie ausreicht. Sie kann sich an ziehen, nur Knöpfe oder Zipf verschlüsse sind unmöglich. Sie kann Mahlzeiten aufwärmen, aber nicht selbst zubereiten. Täglich kommt für ein paar Stunden eine Heimhilfe und hilft beim Einkaufen, Kochen, Aufräumen. Auch diese Form der Unterstützung kostet. Die Zuschüsse der Stadt Wien sind sozial gestaffelt. Brichta müsste noch 509 Euro zahlen.

Wie hoch ihr Pflegegeld sein wird, weiß sie auch ein halbes Jahr nach ihrem Schlaganfall noch nicht. Der Arzt war ja zumindest schon da. Die Diagnose dauert nochmals drei bis vier Wochen. (Marie-Theres Egyed, 14.7.2018)