Olaf Nicolai, geboren 1962 in Halle/ Saale, studierte in Leipzig Germanistik. Als promovierter Sprachwissenschaftler beackert er in seiner Kunst das Feld der Semiotik, hinterfragt Zeichensysteme. Der mehrfache Documenta- und Biennale-Venedig-Teilnehmer (zuletzt 2015) ist seit 2011 Professor an der Akademie der bildenden Künste in München. 2014 wurde sein Denkmal für Opfer der NS-Militärjustiz am Wiener Heldenplatz realisiert.

© VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Foto: Uwe Walter

Schwarze Tapser überziehen den Bilderteppich in der Kunsthalle. Theater- und Straßenmaler haben Zeitungsfotos einen physischen Raum und überdimensionale Präsenz geschenkt. Mit der Zeit werden die Bilder verwischen, sich unter den Füßen verwandeln, von ihnen fortgetragen werden. Ein poetisches Bild.

Stimmig für jemanden wie Olaf Nicolai, der auch mit dem Nichtaugenscheinlichen Reflexionsprozesse anregt, etwa medienkritische zur Politik von Bildern, zur Kultur der Erinnerung und den Bedingungen der Ökonomie. "Diese Trennung zwischen Gefühl und Denken oder Sprache und Bild habe ich für mich nie erfahren", sagte er 2000 im STANDARD-Interview.

Einblick in die Ausstellung "There Is No Place Before Arrival" in der Kunsthalle Wien.
© Olaf Nicolai & Bildrecht, 2018, Foto: Stephan Wyckoff

Auch im Wiener Projekt des aktuell noch in St. Gallen und Bielefeld ausstellenden Konzeptkünstlers verschmelzen Visuelles und Worte, ob geschrieben, gesprochen oder gesungen, zu einer Art Flirren – ganz so, als brauche ein Medium das andere, um sich zu vollenden. Oder um in Schwingung zu geraten, sich zu reiben und Widersprüche zu offenbaren.

Denn Olaf Nicolai sagt von sich, dass er ein Interesse am Misstrauen und dem Verschwinden von Eindeutigkeit hat. So sät seine Arbeit in der Kunsthalle Wien im Betrachter Misstrauen– in die Art, wie er medial zirkulierende Bilder betrachtet, benutzt und daraus seine Weltsicht konstruiert.

Dem typischen Rahmen des Musealen widersteht Nicolai aber auch gern. Er lockt in die Stadt, regt an Flaneur zu werden, seine Interventionen beim Burgtheater, an dem von ihm gestalteten Deserteursdenkmal oder in einem Antiquariat zu entdecken.

STANDARD: Zwischen dem, was man sieht, und dem, was man nicht sieht, entsteht der Reiz der Bilder, sagten sie einmal. In der permanenten Gegenwart der Bilder würde dies jedoch vergessen. Geht es bei den in Malerei verwandelten Medienbildern in der Kunsthalle auch darum?

Nicolai: Es geht darum, was Bilder ganz selbstverständlich sagen, was man glaubt zu sehen, aber auch um das, was noch da ist und man eben nicht sieht – und trotzdem "sieht". Die Bilder kommen aus einem Archiv von Bildern, die mich faszinieren – etwa in der Art, wie sie zur Illustration von Inhalten eingesetzt werden. Mich interessiert ebenso, welche kommunikative Potenz ihnen eingeschrieben ist. Der reale Raum der Bilder verwandelt sich in der Ausstellung in einen choreografierten, dramaturgischen. Ein Raum, der sich auf sie bezieht, aber vielleicht auch ganz woanders hinführt.

Zeitungsbilder verwandeln sich im Ausstellungsprojekt von Olaf Nicolai in Malerei, laden sich womöglich mit neuen Bedeutungen auf, werden wieder abfotografiert und im Rahmen des Projekts "museum in progress" letztendlich wieder in die Medien – auch in den STANDARD – zurückgespielt: "Media Loop".
© Olaf Nicolai & Bildrecht, 2018, Foto: Stephan Wyckoff

STANDARD: In unserer Gegenwart werden Bilder ständig aus ihren Kontexten gerissen.

Nicolai: Man könnte auch sagen, dass wir permanent in die Kontexte von Bildern hineingerissen werden: Bilder ziehen uns in sich hinein und dort versuchen wir, uns zu orientieren. Bilder, die mir interessant erscheinen, sind vielleicht, ohne dass es mir bewusst ist, schon irgendwo in mir einmal existent gewesen. Es gibt untergründig kommunizierende Röhren zwischen Innen- und Außenwelt, und die Bilder sind so etwas wie Wegmarken.

STANDARD: Über soziale Medien beschleunigt sich der Bilderaustausch noch...

Nicolai: Man hat schon immer über Bilder kommuniziert, Instagram folgt da ganz alten und selbstverständlichen Techniken. Man könnte auch sagen, dass die Matrix dessen, wie man Bilder nutzt, einem mehr über die Kultur erzählt, als die Bilder selbst. Bei Instagram bemerkt man eine unglaubliche Ähnlichkeit in der Art, wie Bilder für bestimmte emotionale Zusammenhänge verwendet werden. Und das wiederum erzählt viel darüber, wie diese Bilder für kommerzielle Zwecke verwertet werden können.

STANDARD: Wenn Gefühle so stark in Bilder übersetzt werden, kehrt dann nicht auch eine gewisse Sprachlosigkeit ein? Würde der Germanist und Sprachwissenschaftler Olaf Nicolai den Menschen eine Bilderdiät verordnen?

Nicolai: Nein, ich bin Bilderfan. Auch Bilder haben eine Sprache, die ich mit einer Grammatik und mit einem Vokabular ausstatten kann. Bilder und Sprache sind untrennbar miteinander verwoben. Es gibt keine Bilder ohne Sprache und es gibt keine Sprache ohne Bilder. Bilder sind das, was das Sinnliche reizt. Diese Offenheit der Bilder gibt die Möglichkeit, sinnlich an etwas teilzunehmen, was einem die Abstraktion, die Reflexion, die Arbeit am Begriff wieder enteignet. Aber auch diese ist notwendig, wenn ich mich irgendwie sinnvoll verständigen möchte. Kommt diese sinnvolle Verständigung allerdings in die Krise, braucht es auch Rückbesinnung auf das, was sinnlich verhandelt wird.

STANDARD: Noch einmal zu den unsichtbaren Bildern: 2015 haben sie bei der Biennale in Venedig am Dach des deutschen Pavillons eine Schattenökonomie betrieben – nur die dort für fliegende Händler gefertigten Bumerangs sausten ab und an über den Rand des Gebäudes. Die Arbeit selbst und ihre Produzenten waren aber unsichtbar. Dennoch hat mich das sehr berührt. Ist das nicht albern oder gar absurd?

Nicolai: Das ist genau die Frage. Sind Gefühle erst da, oder haben Gefühle und Sprache vielleicht doch eine etwas kompliziertere Beziehung. Wenn man von einer Sache berührt wird, die sich scheinbar nur über Sprache herstellt, dann zeigt das an, dass in der Sprache selbst wahrscheinlich schon Dinge gefühlsmäßig organisiert werden. Also wenn wir sprechen lernen, lernen wir auch eine bestimmte Art des Fühlens. Ob "Lernen" da der richtige Begriff ist, weiß ich gar nicht. Sagen wir: wir werden formatiert.

In der Kunsthalle Bielefeld ist unter anderem Olaf Nicolais Arbeit "Der 673. Morgen" (2017) zu sehen. Sie bezieht sich auf die Erzählung von Hugo von Hoffmannsthal "Die 672. Nacht": Ein reicher Mann verlässt auf der Suche nach der Wahrheit sein schützendes Heim und kommt dabei um.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Foto: Uwe Walter

STANDARD: Wohin führt uns der Ausstellungstitel? "There Is No Place Before Arrival" klingt nach einer Gedichtzeile, aber auch – tagesaktuell – nach niemals zu erreichender Zuflucht.

Nicolai: Der Titel ist auf einem Camouflage-Muster gedruckt. Ein Bild, das vorgibt, etwas zu sein, was es nicht ist. So ähnlich funktioniert dieses Zitat. Das ist ja... [Nicolai unterbricht sich. Lässt die Quelle des Zitats ungenannt.] Ich mag poetische Titel, weil ihre Interpretationen zeigen, was die Leute gerade beschäftigt, trotzdem lassen sich poetische Titel nicht festlegen.

STANDARD: Die poetische Sprache ist Ihnen sehr wichtig – etwa jene von H.C. Artmann. Im Antiquariat Fritsch haben sie nun eine kleine Begegnung mit seinem Werk inszeniert. Man müsse nicht schreiben oder sprechen, um ein Dichter zu sein, sagte Artmann.

Nicolai: Das heißt aber nicht, dass jeder ein Dichter ist. Viele Leute schließen jedoch aus diesem Zitat, dass sie auch Dichter sind, weil es nichts dazu brauche. Ein Trugschluss. Nicht jeder Mensch ist ein Künstler. Das ist Quatsch. Das entscheidende für Artmann ist die Haltung. Die Art, wie man sich verhält, der Stil, nicht unbedingt die Message. Oder wie Lacan das einmal gesagt hat: 'Wenn wir glauben, dass wir Informationen austauschen, wenn wir sprechen, dann haben wir einen ziemlichen armen Begriff von Sprache'.


Stadtspaziergang: Olaf Nicolai lädt dazu ein, seine Arbeiten im Stadtraum zu erfahren: beim Burgtheater, am Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz am Ballhausplatz und im Antiquariat Fritsch.
Fotos: Foto: David Avazzadeh, Kunsthalle Wien 2018 (2), Iris Ranzinger / KÖR GmbH, 2014

STANDARD: Sie führen hinaus aus der Kunsthalle in den öffentlichen Raum. Worin liegt dessen Kraft?

Nicolai: Die Formulierung "das Öffentliche und das Private" spiegelt eine Trennung vor, die so eigentlich nicht existiert. Auch im Öffentlichen ist das Private anwesend. Und umgekehrt. Man sieht es erst, wenn man leichte Verschiebungen vornimmt. Anders gesagt: Wir reden über Öffentlichkeit, aber was meinen wir konkret damit? Als die Mauer fiel, gab es in der DDR plötzllich einen öffentlichen Raum, den es vorher so nicht gegeben hat. Nach der Wende wurde deutlich, dass der öffentliche Raum jener war, um den sich niemand kümmert, wo niemand Eigentumsverhältnisse einklagt, wo niemand irgend etwas tun möchte. Denn wenn ein Raum von Interesse ist, wird er privatisiert. Dieses Verständnis hat meine große Sensibilität für Räume entwickelt.

STANDARD: Sie erwähnten den Dichter Lautréamont, nach dem man nur zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, zusammenbringen muss, um einen politischen Effekt zu erzielen. Ist das ganz generell die Grundschwingung Ihrer künstlerischen Arbeit?

Nicolai: Ich glaube, warum man Dinge miteinander in Verbindung bringt, liegt gar nicht so sehr in dem, was man sich selbst vornimmt. Sondern es liegt in den Dingen etwas, von dem man noch gar nichts wusste. Es gibt in solchen Konstellationen eigentlich keinen Zufall. Es hat alles Gründe, nur kennen wir sie nicht.

© Olaf Nicolai & Bildrecht, 2018, Foto: Stephan Wyckoff

STANDARD: Wir schreiben 2018, Österreich hat eine schwarz-blaue Regierung und Sie hier eine Ausstellung. Es gibt keine Zufälle. Wie zeigt sich das in der Schau?

Nicolai: Im Zentrum der Halle gibt es ein Bild eines Neonaziaufmarsches 2006 in Münster, auf dem jemand in einem wunderbaren sommerlich weißen Anzug in der Mitte steht. Der Artikel thematisierte, dass sich faschistoid zu verhalten nicht unbedingt heißt, faschistoid auszusehen, und dass die gute Gesellschaft inzwischen glaubt, gewisse Dinge, die durchaus fragwürdig sind, würden zum guten Ton gehören. Dass dieses Bild dezidiert in der Mitte der Halle zu sehen ist, ist kein Zufall. Dass ich das Denkmal der Verfolgten der NS-Militärjustiz als Teil dieses Ausstellungsprojekts bespiele, ist kein Hinweis darauf, dass ich das Denkmal gemacht habe. Das wäre nicht notwendig. Wichtig ist mir hingegen zu sagen, dass das Denkmal im Bewusstsein bleiben soll. Ich habe das Gefühl, manchen Leuten wäre es recht, wenn nicht so viel darüber geredet wird. Es gibt auch Bilder zum Thema Migration in der Schau, aber keine Flüchtlingsbilder, das wäre zu platt und banal. (Anne Katrin Feßler, 16.7.2018)

In der Lokremise in St. Gallen hat Olaf Nicolai mit 20 Tonnen Sand eine Landschaft gebaut, die ebenso eine Wüste wie eine Mondlandschaft sein könnte. Ein Ort für halluzinatorische Träume (unterstützt durch Schatten "speichernde" fluoreszierende Farbe), so Nicolai. Denn in St. Gallen, wo das europäische Mönchstum seinen Ausgangspunkt nahm, fragt der Künstler nach den Visionen der in der Einöde hockenden Eremiten. Gott oder doch der Teufel in falschen "Kleidern"?
Foto: Sebastian Stadler