Wiener Neustadt – Früher hieß es Erlebnistheater. Heute bezeichnet man die Art, wie Paulus Manker Die letzten Tagen der Menschheit inszeniert, als "immersiv": das Publikum ist mittendrin. In dieser Kategorie war der Wiener Theaterregisseur, der bis heute genüsslich den Titel Enfant terrible trägt, schon lange ein Player.

Über zwanzig Jahre zieht sein Polydrama Alma (über Alma Mahler-Werfel) nun durch die Welt. Auch bei den Letzten Tagen, die am Samstag in der sogenannten Serbenhalle in Wiener Neustadt Premiere hatten, wird man als Zuseher von Soldaten angerempelt oder im Lazarett von Krankenschwestern von der Bettkante verscheucht. Man wird in konspirative Gespräche unter Monarchisten verwickelt oder steigt ins Vierradtandem zu.

Mammutdrama

Die jeweiligen Schauplätze dieses als unspielbar geltenden Mammutdramas über den Ersten Weltkrieg, den Niedergang der Habsburg-Monarchie und die Radikalisierung in Richtung Nationalsozialismus fordern das Publikum auf, unmittelbar Augen- und Ohrenzeuge historischer Geschehnisse zu werden. Ein verspielter Gedanke, der an Geisterbahn-Zeitreisen aus dem Tourismuskatalog erinnert, der aber dramaturgisch, logistisch und enthusiastisch so einnehmend gemacht ist, dass man gern ausführlich in diese Ereignislandschaft mit ihren 30 Schauspielerinnen und Schauspielern eintaucht.

Der Niedergang rückt näher: Feuertross in der Serbenhalle Wiener Neustadt.
Foto: Sebastian Kreuzberger

Ähnlich exzessiv wie die österreichisch-dänische Performancegruppe Signa ihre Rieseninstallationen ausstattet, (Wir Hunde, Volkstheater/Wiener Festwochen 2016) hat Manker auf zwei Etagen der ehemaligen Waffenfabrik zentrale Schauplätze des Dramas detailgenau eingerichtet (Raumkonzept: Georg Resetschnig). Als erstes stößt man auf das "Café Serbia", das sich in den Rauch frisch gegrillter Cevapcici hüllt, die dann auch ans Publikum ausgegeben werden.

Die theaterimmanente Versorgungslage ist bei einem Eintrittsgeld von 145 Euro auch nicht zu bemäkeln. Stets wandern Tabletts mit Kaffee und Baklava herum. Auch das "Café Pucher" hat genügend Stühle im Schanigarten bereitgestellt. Höhepunkt der Verköstigung ist das einstündige Dinner (21.30 Uhr) im schon vom Krieg gezeichneten "Restaurant Grüßer".

"Extraausgabeee!"

Weitere Schauplätze: ein Bad (u.a. Ort für den Erpresserbesuch bei der Starschauspielerin Elfriede Ritter), ein Lazarett mit 50 Betten und allen auch unappetitlichen Details (Spucknapf, Käfigbetten etc.), ein Varieté und natürlich die berühmte Sirk-Ecke, jener Wiener Ringstraßenabschnitt, an dem Karl Kraus mit "Extraausgabeee!" bzw. der Meldung vom Tod des Thronfolgers sein Drama starten lässt.

Szene außerhalb der Halle: Versorgung Verwundeter an der Front.
Foto: Sebastian Kreuzberger

Paulus Manker erneut in der Serbenhalle umzugehen sehen, hätte man nach den gerichtlich ausgefochtenen Zerwürfnissen mit dem Besitzer der Liegenschaft nicht unbedingt erwartet. Hier feierte "Alma" 2015 ihr zwanzigjähriges Bestehen. Und die damals mit Manker am Steuer verunfallte Lokomotive ist jetzt sogar wieder in Betrieb! Es war ein kleiner, aber finanziell beträchtlicher Unfall. Alles wieder gut! Die Maschine tuckert und manövriert ein dreigeschossiges Bühnenelement durch die Halle. Dieses dient nicht nur der besseren Sichtbarkeit oder als Semmering-Steilhang, an ihm werden auch immer wieder, signalisiert durch die Stockwerke, Befehls-Hierarchien kenntlich gemacht.

Rostiger Panzer

Manker veranstaltet ein Spektakel, bereits zu Beginn lässt er seinen Theatertross zu den symbolschweren Morgenröteklängen aus Richard Strauss’ Und also sprach Zarathustra auffahren (Sounddesign: Andreas Büchele). Das alles ist von Anfang an begleitet von dramatischem Feuer- und Nebelaufkommen. Fackeln, Feuerschüsseln, unzählige brennende Kandelaber und Theaternebel sorgen für eine unheilvolle, aufgekratzte Atmosphäre. Im Vergleich dazu zeitigen die Szenen im Freien weniger Wirkung, auch nicht der Auftritt von Kriegsreporterin Alice Schalek auf einem rostigen Panzer. Intime Szenen, z.B. auf einer Straße im belagerten Belgrad, bleiben die Ausnahme.

75 von den insgesamt 220 Szenen hat Manker ausgewählt, das reicht völlig und dauert ohnehin über sechs Stunden. Es gelingt ein Eintauchen in historische Situationen, man kommt in Kontakt mit verschiedenen politischen Prototypen der Kriegsjahre. Den hohen Preis der Oberflächlichkeit zahlt jede Inszenierung, die sich dem Nachstellen historischer Ereignisse andient, auch diese. Bei aller Verkürzung und allem Pathos ist das aber immer abenteuerlich und emphatisch. Im besten Fall kommt man Momenten so nahe, dass man Nachlesen möchte. Dazu gibt es auch einen 136-seitigen begleitenden Bildband, im Ticketpreis inbegriffen. Und QR-Codes, die mit dem Smartphone zu knacken sind.

Scherzkeks Manker hat sich übrigens eine kleine Rolle als Lokführer gegönnt. (Margarete Affenzeller, 15.7.2018)