Jeder Abschied ist ein Loslassen. Eigentlich besteht das ganze Leben aus solchen Abschieden – von der Kindheit, Freunden, geliebten Menschen. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Abschied und dem Abschluss: Wer die Dinge für sich abschließt, ist auch mit sich selbst im Reinen. Wer sich jedoch nur verabschiedet, der bleibt in der Vergangenheit verhaftet.

Das erste Bild in Astrid Johanna Ofners Essayfilm Abschied von den Eltern zeigt einen jungen Mann und das Meer. Danach ein aufgeschlagenes Buch und ein historisches Foto eines älteren Paars – der Eltern von Peter Weiss. "Bei ihrem fast gleichzeitigen Tod sah ich, wie tief entfremdet ich ihnen war", schreibt Weiss in seinem 1961 erschienenen Band. "Die Trauer, die mich überkam, galt nicht ihnen, denn sie kannte ich kaum, die Trauer galt dem Versäumten, das meine Kindheit und Jugend mit gähnender Leere umgeben hatte."

Eine der vielen Stationen des Exils: 1939 lebte Peter Weiss im südschwedischen Alingsås. Nach Deutschland sollte er nie zurückkehren.
Foto: Stadtkino Filmverleih

Weiss, damals seit 1940 im schwedischen Exil, schrieb diese Zeilen nach langen Jahren der Entbehrung und des Kampfes. Er war quer durch Europa gezogen, zunächst mit seiner halbjüdischen Familie, dann allein. Abschied von den Eltern ist somit Rückblick und Aufarbeitung in einem. Kurz zuvor hatte Suhrkamp Der Schatten des Körpers des Kutschers verlegt, mit dem Stück Marat/Sade galt der Maler, Autor und Filmemacher wenig später gar als einer der bedeutendsten politischen Literaten der 1960er-Jahre.

Dass sich Ofners Film nicht mit den äußeren biografischen Daten beschäftigt, sondern sich stattdessen ganz auf die Ich-Erzählung Weiss’ konzentriert, ist nur einer seiner vielen Vorzüge. Abschied von den Eltern ist kein Film "über" Peter Weiss, sondern verwendet dessen Text als Ausgangsmaterial für eine ganz eigene Sicht auf dieses Dasein eines äußeren Wirrnissen und inneren Kämpfen ausgelieferten Außenseiters.

Blind im Strom

Während Weiss’ absatzlos verfasster Text wie aus einem Guss scheint – wiederkehrende Motive und Erinnerungen weisen sehr wohl auf seine kunstvolle Dramaturgie hin –, öffnet Ofner ihre Filmerzählung in die verschiedensten Richtungen. Der Schauspieler Sven Dolinski schreitet zitierend die verschiedenen Lebensstationen Weiss’ zwischen Bremen, Berlin, London und Prag ab: die Kindheit und Jugend in Deutschland, die Flucht vor dem Nationalsozialismus, das permanente Ausgeliefertsein als Sohn und Künstler.

Sven Dolinski als Peter Weiss, hier in London, wo für den Autor ein "dreizehntägiger Traum" in Erfüllung geht.
Foto: Stadtkino Filmverleih

Die Auflösung der Familie – der Vater wohlhabender Textilkaufmann, die Mutter vor der Heirat Schauspielerin – vollzieht sich in Schritten mit mehrmaligen Umzügen, und während die familiäre Katastrophe mit dem Tod der jüngeren Schwester Margit beginnt, nimmt die politische im Hintergrund stärker konkrete Gestalt an. "Das Erkennen kommt immer erst später", schreibt Weiss, "wenn alles vorbei ist. Später konnte ich verstehen und überblicken, damals aber war ich blind drinnen im Strom."

Raum zum Atmen

Ofners erster Langfilm – nach dem auf Kafka-Briefen basierenden Kurzfilm Sag es mir Dienstag (2007) – zielt auf dieses Verstehen ebenso ab wie auf ein Verständnis, was nicht dasselbe und so oft und so schwer in Einklang zu bringen ist. Ihr Film, dem verstorbenen Viennale-Direktor Hans Hurch gewidmet, der noch am Drehbuch mitgeschrieben hat, ist das Resultat dieses geglückten Versuchs.

Großteils ist der Film auf analogem Material entstanden, Ofner bedient sich dafür unterschiedlicher Formen und Formate: Dokumente, Fotografien, Stadtlandschaften. Und immer wieder Häuser. Vor allem aber lässt sie der Sprache Weiss’ genug Raum, um diese in den Bildern nachklingen zu lassen, ihr den Atem zu gewähren. "Lag ich nur lange genug, ohne zu atmen, so konnte ich das Atmen vergessen", so Weiss. "Dann versank ich wie ein Stein im Wasser." (Michael Pekler, 17.7.2018)