Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) haben nicht zum ersten Mal auf eine Begutachtung verzichtet. Damit umgehen sie nicht nur die Opposition, sie entziehen sich auch der Kritik aus der eigenen Reihe.

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Man habe in kurzer Zeit so viel weitergebracht wie keine andere Regierung zuvor, bemüht sich Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) stets zu betonen. Im Reformtaumel nehmen ÖVP und FPÖ in Kauf, jene auszublenden, die sich in der Materie auskennen. Immer wieder wird die Befürchtung laut, dass diese Beratungsresistenz zum Bumerang werden könnte – und dass spätere Regierungen ausbaden müssten, was die jetzige Regierung mit ihrem Faible für Tempo verpfuschen könnte.

Besonders laut stöhnen Hilfsorganisationen, die im Bereich Pflege, Armut oder Migration tätig sind. Der Tenor: Die Regierung hört nicht mehr zu. Früher habe man mit manchen Ressorts immer gut zusammengearbeitet, sagt Bernd Wachter, Generalsekretär der Caritas Österreich. Meist sei man in einem frühen Stadium eingebunden worden: Also dann, wenn ein Reformvorhaben noch als Idee in den Köpfen einiger Ministerialbeamter herumgeisterte. "Es gab großes Interesse an unseren Meinungen", sagt Wachter. Nachsatz: "Davon sind wir jetzt weit weg."

"Minister als Exekutoren"

Noch schärfer formuliert es Michael Chalupka, Direktor der Diakonie Österreich. "Die Einbindung der Experten ist nicht mehr existent, und das passiert ganz bewusst", sagt Chalupka. Am deutlichsten sei es bei der Mindestsicherungsdebatte geworden: Nicht nur kritische NGOs habe man ausgeschlossen, "sondern auch die Länder. Und selbst das Sozialministerium war nicht mehr Herr des Prozesses." Chalupka hält das für symptomatisch: Die Minister seien so machtlos wie nie zuvor. Was im Koalitionspakt stehe, werde durchgepresst – und "die Minister sind nur noch Exekutoren".

Ideologie statt Fakten

Ob es nicht auch verständlich sei, dass ÖVP und FPÖ sich ihre Vorhaben nicht verwässern lassen wollen, nach dem Motto "zu viele Köche verderben den Brei"? Darum gehe es nicht, sagt Wachter: Wer beim Gesetzeschmieden nur einen Standpunkt einfließen lasse und die zweite Seite nicht höre, schaffe ein wackeliges Gesetz. Es sei kein Zufall, dass das letzte Fremdenrecht dreimal vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde. "Solide Gesetze brauchen solide Prozesse", sagt Wachter. Es habe sich immer als sinnvoll erwiesen, aus vergangenen Erfahrungen für die Zukunft zu lernen, meint auch Chalupka. Derzeit geschehe das Gegenteil: "Es geht nicht mehr um Fakten und Empirie, sondern nur um Ideologie."

Den Hilfsorganisationen gehe es nicht darum, eigene Standpunkte durchzupressen, betont Wachter: "Wir vertreten Menschen, die keine Lobby haben."

Insgesamt 37-mal trat der Nationalrat in der aktuellen Legislaturperiode zusammen, 62 Gesetze wurden beschlossen. Der in Zahlen gegossenen Zwischenbilanz steht der Aufschrei der Opposition gegenüber. Nicht nur einmal spielte die Regierung die Opposition aus und verzichtete bei Gesetzen auf eine Begutachtung oder die Einbindung der Sozialpartner.

Jüngstes Beispiel ist das Gesetz zur Arbeitszeitflexibilisierung: Mitte Juni wurde es als Initiativantrag von Türkis-Blau eingebracht – bei diesem Prozedere ist eine Begutachtung nicht vorgesehen. Im letzten Moment wurde das Inkrafttreten um vier Monate auf 1. September vorverlegt. Formal ist das Einbringen eines Gesetzes über einen Initiativantrag durch die Verfassung abgesichert, doch es habe einen "unguten Beigeschmack", findet Franz Fiedler. Der frühere Rechnungshofpräsident war in den 80er-Jahren ÖVP-Klubdirektor, mit den Usancen des Parlaments ist er vertraut.

Altbekannte Spielchen

Wird ein Gesetz als Regierungsvorlage oder Ministerialentwurf eingebracht, muss es zunächst vom Ministerrat abgesegnet werden, bevor die Zivilgesellschaft ihre Stellungnahme dazu abgeben kann. Vom Bundeskanzleramt wird eine Begutachtung von sechs Wochen empfohlen. Diese parlamentarische Praxis ist selbst kein Gesetz, die Entschließung geht aber auf das Jahr 1961 zurück.

Fiedler sieht dadurch die Qualität der Gesetze in Gefahr. "Man kann keiner Partei einen Initiativantrag verwehren, auch nicht den Regierungsparteien." Der Schritt sei jedoch bewusst gesetzt worden, um sich eine Diskussion zu ersparen, Dringlichkeit sei bei keinem der Anliegen gegeben gewesen. Für Fiedler überwiegen die Vorteile einer Begutachtung. Oft gebe es legistische Einwände, die von den Ministerialbeamten nicht bedacht wurden.

Gesetze mittels Initiativantrag auf den Weg zu bringen ist trotzdem nicht neu. Diese Spielchen gab es auch in Vorgängerregierungen, allerdings weitaus seltener.

Parteifreunde umgehen

Dass der Kanzler ungern Kontrolle abgibt, ist bekannt. "Kurz muss aber aufpassen, dass das Ausreizen der Geschäftsordnung nicht zur Selbstverständlichkeit wird", sagt Politologe Peter Filzmaier. Denn um Kurs zu halten, brauche er die FPÖ, die sich weiterhin mit der Rolle der Nummer zwei zufriedengeben müsse, analysiert Filzmaier. Durch den Alleingang umgehe Kurz ja nicht nur Opposition und Experten, er entzieht sich auch der Kritik aus den eigenen Reihen.

Für den Experten offenbart sich damit eine andere Flanke, die für Kurz gefährlicher werden könnte. Mehr ÖVP-Abgeordnete denn je seien von seiner Gnade abhängig. Das innere Parteigefälle könnte kippen. Erst kürzlich tadelte Tirols Landeshauptmann Günther Platter die Regierung als "übermütig", das Durchpeitschen bei der Arbeitszeitflexibilisierung empfand er "überfallsartig". Auch die Regierungspläne, den Ausbau der Kinderbetreuung an die Umsetzung eines Kopftuchverbots für Kinder zu knüpfen, stießen den schwarzen Landeshäuptlingen sauer auf. Für Filzmaier ein Warnsignal: Die Bund-Länder-Logik seiner eigenen Partei kann sich jederzeit gegen den Kanzler richten. (Marie-Theres Egyed, Maria Sterkl, 19.7.2018)